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«Wir lehnen Kollektivstrafen grundsätzlich ab»

Statt auf Repression setzt die Berner Fanarbeit auf Prävention. Ohnehin bewirke die Ultra-Bewegung mehr Gutes, als ihr zugeschrieben wird, sagt Fanarbeiter Adrian Werren. 

| Fabian Christl | Sport
Adrian Werren von der Berner Fanarbeit. Foto: Nik Egger
Adrian Werren von der Berner Fanarbeit. Foto: Nik Egger

Herr Werren, vor Ihrer Zeit als Fanarbeiter waren Sie selbst aktiver Teil der Fanszene. Haben Sie Fackeln gezündet und an Choreos mitgewirkt?

Ich war rund 20 Jahre lang stark engagiert in der Fanszene, etwa bei «gäubschwarzsüchtig», dem Dachverband, der die Fangruppierungen abseits der Ultra-Bewegung vertritt. Bei den Heimspielen hielt ich mich aufgrund meines Freundeskreises nicht im Sektor D auf, die Auswärtsspiele verfolgte ich im Gästeblock. Früher habe ich auch ab und an bei Choreos mitgewirkt. Aber ich war nie ein Ultra und habe auch nie Pyros gezündet.

Mitten im Gästeblock: Da fliesst das Adrenalin, oder?

Ja, da ist Adrenalin mit dabei. Es ist sehr mitreissend, wenn man gemeinsam mit vielen Gleichgesinnten die Mannschaft mit Gesängen antreibt. Das gibt dir schon einen gewissen Kick. 

Und jetzt als Fanarbeiter sind Sie quasi ein bezahlter Fan?

Definitiv nicht. Das ist mit einem klaren Rollenwechsel verbunden. Man darf zwar noch ein wenig Fan sein, aber man hat am Spieltag eine ganz andere Aufgabe als die Fans, die ja für Stimmung sorgen wollen.

Wenn man beruflich in einem Gebiet eingebunden ist, ändert sich der Blick darauf und verliert die Unbeschwertheit. Haben Sie Ihre Leidenschaft dem Beruf geopfert?

Ich würde eher sagen, ich habe einen Teil meines Hobbys zum Beruf gemacht. Klar: Ich kann nicht mehr in der Kurve stehen und mitsingen – das wäre für mich mit dieser Rolle nicht vereinbar. Aber ich freue mich immer noch, wenn YB ein Tor schiesst und gewinnt. Ausserdem konnte ich das Fantum jahrelang ausleben. Mit dem zunehmenden Alter verschiebt sich der Fokus ohnehin ein wenig.

Was machen Sie während der Spiele?

Wir sind vor Ort und stehen den Fans, aber auch den Behörden und Vereinen als Ansprechpersonen zur Verfügung. Wenn es uns braucht, vermitteln wir zum Beispiel zwischen den Fans und den Behörden, sollte es erforderlich sein auch bei Konflikten und Problemen untereinander. Wir stehen aber auch bei persönlichen Problemen als Ansprechpersonen zur Verfügung. Bei Auswärtsspielen begleiten wir die Anreise der Fans im Extrazug, verkaufen die restlichen Tickets für den Gästeblock und begleiten den Einlass in den Gästeblock. 

Wie würden Sie die Aufgabe der Fanarbeit generell beschreiben?

Wir betreiben aufsuchende Sozial­arbeit. Wir fördern den Dialog, wir wollen zu einer Umgebung beitragen, in der unbeschwertes Fantum gelebt werden kann, das auf positiven Werten beruht. Dabei verfolgen wir einen rein präventiven Ansatz. Fanarbeit funktioniert nur, wenn vertrauensvolle Beziehungen zwischen Fans und Fan­arbeiter bestehen. Das bedingt eine gewisse Nähe, aber auch eine gewisse Distanz. Wir nennen das «kritische Begleitung» der Fanszene. Wir bieten aber auch juristische Erstberatungen an, oder stehen bei persönlichen oder sozialen Problemen zur Verfügung. Wir leisten aber auch konkrete Präventionsarbeit anhand von Projekten. 

Was für präventive Projekte führen Sie durch?

Etwa das Projekt Ragazzi. Es ermöglicht minderjährigen Fans, gemeinsam an Auswärtsspiele zu reisen, in einem geschützten Rahmen ohne Alkohol- oder Suchtmittelkonsum. Im Fokus steht hierbei die Vermittlung einer
positiven Fankultur. Im Rahmen des Projekts führen wir aber auch immer wieder gemeinsame Aktionen mit YB durch. Ende April fahren wir etwa gemeinsam nach Winterthur und treffen die «Sirupkurve», also die jugendlichen Fans des FC Winterthur.

Wo liegt da der präventive Charakter?

Die Jungen sehen, dass sie über grosse Gemeinsamkeiten mit den gegnerischen Fans verfügen. Schliesslich teilen sie eine Leidenschaft und sind sich daher sehr ähnlich – einfach, dass andere Farben unterstützt werden. Leider ist dieses Bewusstsein auch aufgrund der repressiven Fan-Trennung verloren gegangen. Als ich in den 1990er-Jahren mit Fussball sozialisiert wurde, war es normal, dass man nach dem Spiel mit den gegnerischen Fans noch ein Bier trank.

Trotz verschiedener Bemühungen kommt es immer wieder zu Ausschreitungen rund um Fussballspiele. Woher kommt diese Gewaltaffinität von Fussballfans?

Fussball und die Fankurven sind ein Abbild der Gesellschaft …

Nicht Ihr Ernst …

Ich weiss, es handelt sich um eine Phrase. Aber es ist einfach so, dass wir nicht in einer gewaltfreien Gesellschaft leben. Im Fussball zeigt sich die Gewalt vielleicht punktuell ein wenig geballter, aber es ist ein Fakt, dass wir an verschiedenen Orten in der Gesellschaft Gewalt haben. Ich bin überzeugt, dass wir mit unserer präventiven Arbeit die Gewalt reduzieren konnten und können. Aber ich muss auch einräumen, dass wir nicht alle Leute mit unserer Arbeit erreichen können. Es wäre aber auch utopisch, dies zu fordern.

Die Behörden wollen der Gewalt nun mit dem Kaskadenmodell (siehe Box) begegnen. Sie üben Fundamentalkritik. Wieso?

Erstens zielt es hauptsächlich auf die Fansektoren in den Stadien, dort kommt es aber kaum mehr zu Vor­fällen. Zweitens lehnen wir Kollektivstrafen grundsätzlich ab. Von der Sektor-Sperrung beim GC-Spiel waren 3000 Fans betroffen, die mit dem Vorfall, an dem rund 20 Personen beteiligt waren, überhaupt nichts zu tun hatten. Das ist eines Rechtsstaats nicht würdig. Drittens fehlt es unseres Erachtens an der rechtlichen Grundlage für die Massnahmen.

Sie haben eine Einladung, bei der Erarbeitung mitzuwirken, abgelehnt. Nun Kritik zu äussern ist etwas einfach, nicht?

Bei der Erhebung eines Berichts zur Fangewalt haben wir mitgewirkt. Die Fanarbeit wurde dann erst auf unser Nachfragen hin zu einem «Workshop» eingeladen. Und dort ging es lediglich um die Erarbeitung von repressiven Massnahmen. Wenn man versucht hätte, die Probleme grundlegend anzuschauen, hätten wir uns sicher nicht verwehrt. Bei allen anderen Teilprojekten, dem Projekt «Biglietto+», aus dem das Kaskadenmodell hervorging, zum Beispiel bei den Cluballianzen, die runde Tische an den jeweiligen Standorten vorsehen, waren wir deshalb auch mit dabei. Wir wollten aber nicht durch unsere Teilnahme am Workshop repressive Massnahmen legitimieren.

Sind Sie denn grundsätzlich und in jedem Fall gegen Repression?

Nein, aber die entsprechenden, repressiven Möglichkeiten sind schon vorhanden. 2013 hat man das sogenannte Hooligan-Konkordat installiert …

 … das Sie bekämpften …

Wovon wir Teile bekämpften, weil es eine Abkehr von der Unschuldsvermutung beinhaltete. Es reicht nun, wenn ein Stadionmitarbeiter jemanden beschuldigt, um ein Stadionverbot oder einen Eintrag in der entsprechenden Datenbank zu erhalten. Ich bin aber nicht in jedem Fall gegen Repression. Wenn jemand wirklich ein Gesetz bricht, muss das auch Konsequenzen haben. Auch ein Stadionverbot kann in gewissen Fällen die gewünschte Wirkung erzeugen.

Die Fanszene unternimmt aber etwa mit Einheitskleidung und Vermummung alles, damit Straftäter eben nicht dingfest gemacht werden können.

Es ist die Frage nach dem Huhn oder dem Ei. Einheitskleidung und Vermummung waren meines Erachtens gerade eine Reaktion auf zunehmende Repression, auch wegen Bagatellen.

Fanvertreter verweisen häufig auf eine «Selbstregulierung der Kurve». Was bedeutet das genau?

Es bedeutet, dass man aufeinander Einfluss nimmt, wenn sich Leute falsch verhalten. Und das passiert auch – ich habe das selbst miterlebt. Etwa wenn es zu diskriminierendem Verhalten kommt, wird heute kurvenintern eingegriffen.

Mein Eindruck: Die Kurve gebärdet sich als Kollektiv, erschwert die Strafverfolgung Einzelner und will sich selbst regulieren. Aber wenn die Selbstregulierung versagt, will man nicht als Kollektiv die Konsequenzen dafür tragen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Natürlich hat die Selbstregulierung ihre Grenzen. Aber dort sehe ich in erster Linie den Staat in der Verantwortung. Er gibt die Regeln und Gesetze vor, und Instrumente, diese durchzusetzen und Regelverstösse zu ahnden, gibt es zur Genüge. Diese Verantwortung einfach auf die Fankurven abzuwälzen, halte ich auch aus rechtstaatlicher Sicht für falsch.

Sollte man die Ultras nicht generell kritischer betrachten? Da werden Leute gehasst, einfach weil sie einen anderen Verein unterstützen. Oder die Regel, dass sich Ultra-Gruppierungen auflösen sollen, wenn ihre Zaunfahne geklaut wird. Das erinnert an extrem rechte Denkweisen.

Es gibt in der Ultra-Szene ein starkes Gruppenzugehörigkeitsgefühl und entsprechend ein Abgrenzungsbedürfnis. Ich persönlich kann damit auch nichts anfangen – vielleicht mit ein Grund, wieso ich selbst nie ein Ultra war. Gleichzeitig gilt es aber zu akzeptieren, dass dies ein Teil der Ultra-Bewegung ist. Ob ich dies persönlich gut finde oder nicht, spielt dabei für meine Arbeit keine Rolle. Der Charakterisierung als rechts möchte ich aber widersprechen. Die Ultra-Bewegung hat ihren Ursprung in linken Arbeiterkreisen aus Italien, auch die Stilmittel wie Fahnen und Pyrotechnik sind linken Bewegungen entnommen. Und noch immer bewirken die Ultras viel Gutes.

Woran denken Sie?

Die Fankurven sind Orte, an denen junge Leute viel lernen und fürs Leben mitnehmen können. Es braucht grosses Engagement, fördert Kreativität – etwa wenn man an die Choreos und Banner denkt. Auch engagieren sich viele Ultra-Gruppen sozial, in Bern wurden kürzlich Spenden für die Jugend-Notschlafstelle Pluto gesammelt. Dies wird aus einer Haltung der Selbstverständlichkeit nicht an die grosse Glocke gehängt. Schliesslich ist es den Ultras zu verdanken, dass gewisse Diskriminierungsformen in Stadien nicht mehr geduldet werden. In Bern hat sich die Stimmung dank dem antirassistischen Verein Halbzeit und dem Wirken der Ultras stark verbessert. Rechts­extreme können ihre Ideologie nicht mehr zur Schau stellen, ohne zu riskieren, von der Kurve ausgeschlossen zu werden. 

Die Fanszene hat schweizweit Zulauf. Wieso?

Die Kurven sind rarer werdende Orte, die Freiraum-Charakter haben. Es sind auch soziale Orte, wo Leute akzeptiert werden, die es in der Gesellschaft eher schwierig haben. Aber entscheidend ist der Drang nach Freiraum, nach Zugehörigkeit und der Möglichkeit, selbst etwas mitzugestalten.

 

Kaskadenmodell und personalisierte Tickets: Behörden verschärfen Gangart mit Fussballfans

 

Die Behörden wollen mit schärferen Massnahmen gegen Fussballfans vor­gehen. Einerseits sollen personalisierte Tickets eingeführt werden, um die Strafverfolgung zu erleichtern. Dies soll mit einer Verschärfung des sogenannten Hooligan-Konkordats geschehen. Ausserdem haben sich die Bewilligungs­behörden auf die Einführung des sogenannten Kaskadenmodells für Fussballspiele geeinigt. Dieses definiert, welche Massnahmen bei welcher Art von Ausschreitungen von Fan-Gruppierungen ergriffen wird. Je nach Schwere eines Vorfalls unterscheiden sich die Massnahmen. Werden Knallkörper gezündet, müssen sich Vertreter von Club und Fans vor den nächsten Spielen mit Behördenvertretern treffen. Im Wiederholungsfall oder bei Pyro-Würfen, Plünderungen oder besonders gravierenden Sachbeschädigungen, müssen verstärkte Überwachungsmassnahmen ergriffen werden. Bei Gewalt gegen Personen mit Verletzungsfolge sind Schliessungen der Fankurven vorgesehen. Im Wieder­holungsfall drohen Geisterspiele bis hin zu Forfait-Niederlagen. Die Swiss Football League und die Vereine lehnen das Kaskadenmodell ab. 


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