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Strafen durchsetzen
Werden Regeln besser eingehalten, wenn mit Strafe gedroht wird? Es wäre schön, wenn es so einfach wäre, schreibt «Anzeiger»-Kolumnist Marcel Niggli. Unglücklicherweise gebe es für die Wirksamkeit von Strafen keinen überzeugenden empirischen Beleg.

Immer dann, wenn irgendwo eine Regel gemacht wird, kommt sofort der Vorschlag, man müsse ihr mit einer Strafe Nachachtung verschaffen. Die Vorstellung, dass man mit Strafen Regeln durchsetzen könne, ist vor allem bei Politikern, gelegentlich auch bei Journalisten verbreitet. In den besten Corona-Zeiten wurde gar vertreten, eine Regel, die nicht mit einer Strafandrohung verbunden sei, könne gar nicht ernst gemeint sein. Diejenigen, die so etwas behaupten, würde man gerne fragen, ob denn Ehe-, Scheidungs-, Kindes- oder Vertragsrecht, um nur ein paar zu nennen, nicht ernst gemeint seien, nur weil sie keine Straf-bestimmungen kennen.
Es scheint sich dabei allerdings um ein doch gewaltiges Missverständnis zu handeln. Die Vorstellung, dass zu einer Rechtsregel auch ein Mechanismus gehört, um sie nötigenfalls auch zwangsweise durchzusetzen, ist schon altehrwürdig und wohl auch heute noch weitherum akzeptiert (ihr berühmtester Vertreter ist Max Weber, 1864–1920). Das mag ja auch richtig sein, doch spielt die Musik eben im Begriff «Durchsetzen». Und das ist der eigentliche Kern des Problems: Setzt eine Strafe etwas durch? Nicht wirklich, eigentlich überhaupt nicht.
Um zu verstehen, warum das so ist, dürfen wir nicht daran denken, was wir mit der Strafe erreichen wollen, sondern müssen wir uns anschauen, was genau passiert, wenn wir jemanden bestrafen. Voraussetzung der Strafe ist immer, dass eine Regel verletzt wurde. Die Strafe kommt also immer erst zum Tragen, nachdem die Regel, die eingehalten werden sollte, gerade nicht eingehalten wurde. Die Strafe reagiert auf den Regelbruch, sie setzt die Regel – jedenfalls beim Bestraften – nicht durch, denn sie kommt erst zum Tragen, wenn er sie nicht eingehalten hat. Natürlich wird immer wieder mal vertreten, Strafen würden abschreckend wirken und zwar nicht die Regel, die heute gebrochen wurde, aber zukünftige Regeln durchsetzen. Unglücklicherweise gibt es für die Wirksamkeit von Strafen keinen überzeugenden empirischen Beleg, es handelt sich mehr um Wunsch als Wirklichkeit. Ein einfaches Gedankenexperiment mag das belegen: Wenn eine Busse tatsächlich verhinderte, dass wir falsch parkieren, warum tun wir es dann trotzdem? Dass die Bussen zu tief sind, kann es nicht sein, denn selbst die Androhung der Todesstrafe verhindert ja die entsprechenden Delikte nicht. Die Welt wäre einfacher, wenn das funktionieren würde.
Warum aber fordern dann Politiker dauernd und stets mehr und höhere Strafen? Nun, wie fast immer, des Geldes wegen. Eine Strafe zu fordern, kostet nichts. Eine Strafe ins Gesetz zu schreiben, kostet praktisch nichts, erlaubt aber allen, die das fordern, sich als respektable Beschützer wertvoller Güter zu profilieren. Offensichtlich wird die Sinnleere dieses Vorgehens, wenn bedacht wird, was tatsächlich nützt, nämlich Kontrollen und technische Hindernisse: Wenn sie Angst haben, dass ihr Kind aus dem Fenster stürzt, drohen sie ihm eine Strafe an, wenn es sich dem Fenster allzu sehr nähert, oder schliessen sie das Fenster? Genau! Regeln werden nicht mit Strafen durchgesetzt, sondern mit Kontrollen. Nicht die Strafandrohung sorgt für die Einhaltung einer Regel, sondern die Polizei. Die aber kostet.
Die Städteplaner haben das schon lange erkannt, sie haben nur eben nicht viel Aufhebens darum gemacht: Was glauben Sie, reduziert die Geschwindigkeit effektiver, die Androhung einer Strafe oder ein bauliches Verkehrshindernis? Eben. Nur: Solche Hindernisse kosten. Wenig Hoffnung also, dass sich an der Begeisterung für Strafen demnächst etwas ändert.