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«Ich sehe die Situation nicht ganz so rosig»

Béatrice Wertli will für die Mitte den Gemeinderatssitz von Reto Nause erben. Wieso sie trotzdem auf den Schub einer Stadtpräsidiumskandidatur verzichtet, was in Bern alles schief läuft – und wann sie alles um sich herum vergisst.

| Fabian Christl | Politik
Béatrice Wertli sieht auch ohne Stapi-Kandidatur gute Chancen, gewählt zu werden. Foto: zvg / Thomas Hofstetter
Béatrice Wertli sieht auch ohne Stapi-Kandidatur gute Chancen, gewählt zu werden. Foto: zvg / Thomas Hofstetter

Frau Wertli, eine Kandidatur fürs Stadtpräsidium hätte Ihrer Kandidatur für den Gemeinderat zusätzlichen Schub verliehen. Wieso verzichten Sie freiwillig auf dieses Schaufenster?

Ich möchte Gemeinderätin werden, nicht Stadtpräsidentin. Daher sehe ich nicht ein, wieso ich für dieses Amt kandidieren sollte, nur um auf ein paar ­zusätzlichen Podien zu sein. Es gibt zahlreiche andere, vielleicht sogar bessere Möglichkeiten, um die Wählerinnen und Wähler zu erreichen. 

GLP und SVP dominierten bereits aufgrund ihrer Animositäten die Schlagzeilen. Haben Sie keine Angst, zwischen den beiden Parteien zerrieben zu werden?

Nein, ich denke, aufgrund meiner langjährigen Erfahrung habe ich trotzdem gute Chancen, gewählt zu werden.

Aber Hand aufs Herz: Ihnen wäre es lieber gewesen, wenn die SVP auch auf eine Stapi-Kandidatur verzichtet hätte.

Absolut nicht. Jede Partei und jede Kandidatin, jeder Kandidat darf das für sich selbst entscheiden. Diese Freiheit muss in einem Bündnis erhalten bleiben. Und ich habe Verständnis dafür, dass sich Janosch Weyermann und ­Melanie Mettler für eine Stapi-Kandidatur entschieden.

Die Mitte-rechts-Allianz wirkt bisher wie eine knorzige Angelegenheit. Wieso setzen Sie dennoch auf das breite Bündnis, anstatt wie vor vier Jahren mit der GLP eine gemeinsame Liste zu bilden?

Aktuell sind vier der fünf Sitze in der Hand der Linken, sie sind also massiv übervertreten. Aufgrund des Stadt­berner Wahlsystems ist eine breite Liste die einzige Möglichkeit, um eine ausgewogenere Vertretung in der Stadt­regierung zu ermöglichen. Ausserdem sehe ich unser Bündnis nicht als Knorz, sondern als sehr erfolgreich. Jedenfalls hat es aufseiten der Linken bereits grosse Nervosität ausgelöst. 

Was läuft denn in Bern so schlecht, dass es eine andere Sitzverteilung im Gemeinderat braucht?

Die linke Dominanz sorgt dafür, dass die Geschäfte nicht gut genug vorbereitet werden. Die Mehrheit muss sich ­keine Mühe mehr geben, es findet kein Ringen um die besten Lösungen mehr statt. Schon als ich vor zehn Jahren im Stadtrat war, war dies ein Problem. Seither hat sich das noch akzentuiert. 

Können Sie ein Beispiel machen?

Vor zehn Jahren hat man im Stadtrat darüber abgestimmt, was die Schulen für eine IT-Lösung haben sollen. Links-grün pochte aus ideologischen Gründen darauf, dass man eine eigene Software entwickelt, anstatt Produkte der «bösen, amerikanischen» Firmen wie Google, Microsoft oder Apple zu benutzen. Nun, zehn Jahre und zig Millionen Franken später, wechselt man auf Microsoft. Als positives Beispiel, was bei bündnisübergreifender Zusammen­arbeit möglich ist, könnte man die Kita-Betreuungsgutscheine nennen. Gemeinsam mit der GFL, der GLP und FDP haben wir ein System ermöglicht, das die Platzprobleme massiv entschärfte.

Einverstanden. Aber insgesamt hat es Rot-Grün-Mitte (RGM) geschafft, die Stadt lebenswerter und attraktiver zu machen. Heute wollen auch Familien in der Stadt leben, die notabene reichlich Steuern bezahlen.
Aus unternehmerischer Sicht wurde die Stadt also gar nicht so schlecht gemanagt, oder sehen Sie das anders?

Drei Dinge. Erstens hat das RGM nicht alleine gemacht, da gibt es noch ganz viele Architekten für das lebenswerte Bern, zum Beispiel der Gewerbeverband, die Wirtschaftsförderung, der bürgerliche Sicherheits- und Umweltdirektor oder die Quartiervereine – ebenso wie viele andere Menschen und Vereine. Zweitens will ich ja nicht alles umkrempeln. Was die Stadt lebens- und liebenswert macht, soll erhalten bleiben. Drittens haben gerade Familien das Problem, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Viele müssen deshalb von Bern wegziehen. Ich sehe die Situation also nicht ganz so rosig wie Sie. 

Das Problem mit den hohen Mieten will die Stadt mit der Förderung von genossenschaftlichem Wohnungsbau entschärfen. Sie haben sich im Smart­vote-Fragebogen vor vier Jahren gegen eine solche Förderung ausgesprochen. Wieso?

Den Smartvote-Fragebogen von vor vier Jahren habe ich nicht mehr präsent. Klar scheint mir aber, dass man alleine mit genossenschaftlichem Wohnungsbau das Problem nicht in den Griff  kriegen kann.

Wo würden Sie ansetzen?

Es hat in der Stadt zahlreiche Gebäude, die man in eine Wohnnutzung überführen könnte. Wenn ich etwa an all die Armee-Gebäude im Breitenrain denke, sehe ich dort ein grosses ungenutztes Potenzial für Wohnungen. 

Sie sind eine moderne, weltoffene Frau. Wieso sind Sie eigentlich damals in die CVP eingetreten, eine Partei, die mindestens einen konservativen Touch hat?

Meine CVP, das sind meine feministische Mutter, mein Vater, ein Gewerkschaftsvertreter, aber auch Reto Nause, Ruth Metzler, Doris Leuthard und Viola Amherd. Mit konservativ hat das überhaupt nichts zu tun.

Anders gefragt: Wenn es damals schon die GLP gegeben hätte …

Es gab damals den LDU, der vergleichbar mit der heutigen GLP war. Und nach einem Austauschjahr in Australien besuchte ich mehrere Jungparteien. Aber bei der CVP hat es einfach am meisten Spass gemacht und die Leute wirkten auch offener, unvoreingenommener als in den anderen Parteien. Denn, glauben Sie mir, eigentlich wollte ich nicht in die gleiche Partei wie meine Eltern. Aber ich habe es nie bereut. Zu 100 Prozent ist man ohnehin nie mit einer Partei einverstanden.

Welche politischen Themen liegen Ihnen heute am meisten am Herzen?

Das sind viele. Angefangen bei der Sicherheit – eine Grundbedingung für ein gutes Leben. Dann die Vereinbarkeit des Lebens. Noch immer zeigen viele Arbeitgeber zu wenig Verständnis und Wertschätzung für Familienarbeit, Freiwilligenengagement oder das Engagement in Sportvereinen. Weiter strebe ich eine inklusive Gesellschaft an. So richtig geht mein Herz aber auf, wenn ich mich für unsere Zukunft, also die Kinder, einsetzen kann. Schule und Bildung sind Herzensanliegen von mir. Vielleicht weniger das Herz als der Kopf legt aber auch grossen Wert auf eine nachhaltige Finanzpolitik. Wohlfahrt braucht Wohlstand. Wenn wir es uns plötzlich nicht mehr leisten können, sozial zu sein, haben wir ein grosses Problem. Daher macht es mir auch Sorgen, dass die Stadt Bern derzeit auf Pump lebt.

In Direktionen übersetzt heisst das Bildung, Soziales und Sport (BSS), Finanzen oder Sicherheit und Umwelt (SUE). Welche würde Sie am meisten reizen?

Ich könnte mich für alle Direktionen begeistern und traue mir auch alle Direktionen zu. Schliesslich kann man stets auf eine professionelle Verwaltung voller hochqualifizierter Fachleute zurückgreifen.

Ihnen ist aber schon bewusst, dass Sie im Fall einer Wahl in der Sicherheitsdirektion landen würden?

Dann hätte ich Glück. Es ist die Direktion, die ich aufgrund der engen Zusammenarbeit mit Reto Nause am besten kenne.

Zu Ihnen als Person: Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Dynamisch, positiv, sehr motiviert und begeisterungsfähig. 

Laut Politikberater Mark Balsiger sind Sie sogar «übermotiviert». Ohnehin gelten Sie als forsch, direkt und dominant. Sind Sie zu laut für das gemächliche Bern?

Wer etwas verändern will, muss bereit sein, hinzustehen. Das habe ich als Stadträtin und als Generalsekretärin der CVP oder auch als Direktorin des Schweizerischen Turnverbands gelernt. Und ich finde, das qualifiziert mich für einen Sitz im Gemeinderat. Ausserdem lernte ich von Reto Nause. Er ist auch nicht unbedingt ein zurückhaltender Typ. (lacht)

In Bern ist man sehr lokalpatriotisch, die Leute sind stolz auf ihren Dialekt. Sie sind gebürtige Aargauerin. Fühlen Sie sich trotzdem in der Bundesstadt zu Hause?

Mega. Bern ist der Ort, an dem ich mit Abstand am längsten gelebt habe. Hier habe ich meinen Mann kennengelernt und meine Kinder auf die Welt gebracht. Und auch beruflich war Bern immer mein Mittelpunkt. Ich bin zwar in Aarau geboren, aber Bern habe ich mir ausgesucht, es ist meine Herzensstadt. 

Was sind Ihre Lieblingsorte in Bern?

Der Schönausteg an einem warmen Sommerabend, wenn es viel Volk hat. Und generell die Aare. Sie ist so demokratisch. Da schreibt man einer Person am Vormittag eine geschäftliche Mail und trifft sie am Nachmittag in Badehosen an, wie sie die Aare hochläuft. Als Joggerin – ich laufe jedes Jahr 2500 Kilometer – kenne ich zudem fast jeden Ort der Stadt. Vom Muristalden und vom Aargauerstalden aus hat man die beste Sicht über Bern.

Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?

Ich mache jeden Tag Sport. Neben Joggen mache ich Functional Training. Ausserdem verbringe ich viel Zeit mit der Familie. Im Winter sind wir viel in den Bergen. Wir können uns aber auch zu Hause stundenlang in Brettspiele vertiefen, da vergesse ich alles um mich herum.

 

Melanie Mettler und Janosch Weyermann kandidieren fürs Stadtpräsidium

 

Stadtpräsident Alec von Graffenried  (GFL) bekommt weitere Konkurrenz: Nach Marieke Kruit (SP) haben auch Melanie Mettler  (GLP) und Janosch Weyermann (SVP) ihre Kandidaturen fürs Stadtpräsidium bekannt gegeben. Die beiden kandidieren auf der Gemeinderatsliste der Mitte-rechts-Allianz von EVP, FDP, Mitte, GLP und SVP.  Mit der Kandidatur «bringen die Parteien bewusst mehr Farbe in den Wahlkampf und bieten eine echte Auswahl», schrieben sie in einer gemeinsamen Mitteilung. 

Béatrice Wertli (Mitte), Florence Pärli (FDP) und Bettina Jans-Troxler (EVP) verzichten auf eine Kandidatur. Pärli begründete den Verzicht auf der Plattform X (vormals Twitter) mit ihren Schwerpunktthemen. So möchte sie sich etwa für nachhaltigere Finanzen, eine sichere Stadt und mehr Wohnraum für alle einsetzen. Das seien alles nicht prioritär Aufgaben des Stadtpräsidiums. 

 

Was macht Anderegg?

Noch offen ist, ob Ursina Anderegg (GB) füs Stadtpräsidium kandidiert. Der Entscheid sei noch nicht gefallen, teilt Anderegg auf Anfrage mit. Für das Amt nicht zur Verfügung steht Matthias Aebischer (SP), der neben von Graffenried, Kruit und Anderegg auf der Liste von Rot-Grün-Mitte (RGM) kandidiert.

Angesichts der mindestens vier Kandidierenden ist absehbar, dass niemand im ersten Wahlgang das absolute Mehr erreichen wird – und der Entscheid erst im zweiten Wahlgang fallen wird. Bereits entschieden ist, dass das Mitte-rechts-Bündnis im Fall eines zweiten Wahlgangs diejenige Person der gemeinsamen Liste unterstützen wird, die im ersten Wahlgang am meisten Stimmen erhält, wie es in der Mitteilung heisst. 


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