Anzeige
Raumplanerin Andrea Schemmel über innere Verdichtung und schöne Dörfer
Andrea Schemmel, die Leiterin des Fachbereichs Raumplanung der Regionalkonferenz Bern-Mittelland, erklärt, was man bei der städtebaulichen Entwicklung in einer Gemeinde beachten muss, warum öffentliche Plätze für das Ortsbild wichtig sind und wie man die eigene Identität erhält.

Frau Schemmel, einige Gemeinden haben Bevölkerungszuwachs, aber die Fläche für Wohnraum wird nicht grösser. Wie löst man das?
Man muss schauen, in welchen bereits bebauten oder eingezonten Gebieten man mehr Wohnraum als bisher zulassen kann. Dabei gilt es abzuschätzen, welche dieser Gebiete man überhaupt innerhalb von fünf bis zehn Jahren weiterentwickeln kann. Das hängt davon ab, ob und wo die Eigentümer entwicklungsbereit sind. Man sollte auch mögliche Einzonungen prüfen. Im urbanen Kerngebiet sind mögliche Einzonungsflächen oft sehr gut gelegen, das heisst zentral, nahe beim Ortskern oder nahe an Schulen und gut erschlossen durch den öffentlichen Verkehr.
Welche Gebiete sind am stärksten von Bevölkerungswachstum betroffen?
Die Kernagglomeration hat nach wie vor eine hohe Anziehungskraft für die Wohnbevölkerung. Das ist auch raumplanerisch gewünscht, weil dort Arbeitsplätze vorhanden sind. Dabei verringern sich einerseits die Arbeitspendlerströme, andererseits sind die in diesen Räumen zu Verfügung stehenden Verkehrsmittel wie Tram, Bus oder Velo flächensparend und umweltfreundlich.
Sie haben den Überblick über verschiedene Gemeinden. Welches sind in Bezug auf die Raumplanung die gemeinsamen Herausforderungen?
Mit der Annahme des revidierte Raumplanungsgesetzes von 2013 hat sich die Schweizer Bevölkerung dafür ausgesprochen, das immer weitere Ausfransen von Gemeinden in die Nichtbauzone zu stoppen, die Innenentwicklung zu priorisieren und Fruchtfolgeflächen zu erhalten. Einzonungen sind deshalb an strenge Bedingungen geknüpft, und es sollten vorrangig unbebaute Zonen aktiviert werden. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Erhöhung der Raumnutzungsdichte bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Qualität und Identität einer Gemeinde. Hier spielt vor allem der öffentliche Raum eine zentrale Rolle.
Warum sind öffentliche Räume wichtig?
Öffentliche Räume wie Strassen, Plätze, Vorbereiche von Gebäuden, Spielplätze oder Parks sind Orte, an denen man das Gesamtbild eines Ortes wahrnimmt. Wenn der Raum gelungen ist, hält man sich dort gerne auf. Bedeutende Gebäude haben oft Vorplätze oder stehen auf Anhöhen in Sichtachsen, wie beispielsweise das Bundeshaus. So erhalten sie die gewünschte Wirkung in der Wahrnehmung. Die Faszination der italienischen Innenstädte erklärt sich zum grossen Teil aus ihren wunderschönen, belebten, öffentlichen Räumen, den Strassen und Platzabfolgen.
Das Ortsbild ist ein Teil der Identität einer Gemeinde. Wie erhält man die eigene Identität trotz des Hinzufügens neuer Gebäude?
In sensiblen Gebieten stellen sich folgende Fragen: Wie stehen die Gebäude im öffentlichen Raum? Wie gestalten sich die Vorbereiche? Was ist typisch für die Umgebung? Wie gross können neue Gebäude werden, ohne dass sie den Kontext überformen? Welche Abstände haben die Gebäude voneinander? Man kann eine Weiterentwicklung so gestalten, dass sich neue Gebäude ins Ortsbild einfügen und dennoch als neu erkennbar bleiben.
Haben Sie ein Beispiel von besonders gelungener städtebaulicher Entwicklung im Kanton Bern?
Es gibt viele wunderschöne Dörfer in der Region. Orte, die sich ausgehend von Strassenkreuzungen, Kirchen und Bauernhäusern mit typischen Gärten natürlich entwickelt haben und heute als besonders schöne und schützenswerte Ortsbilder gelten. Das sind Schätze, zu denen man Sorge tragen muss. Mir gefallen auch die Zeilen- und Reihensiedlungen der 30er- bis 70er-Jahre mit ihren gartenstadtähnlichen Anlagen. Sie wurden vom Freiraum her gedacht und sind heute mit ihrem grossen Baumbestand durch die Klimadiskussion wieder topaktuell. Moderne Beispiele besonders gelungener Innenentwicklung sind die Siedlung Hardegg-Weissenstein an der Stadtgrenze von Bern sowie Köniz als Beispiel erfolgreicher interkommunaler Zusammenarbeit. Die Umnutzung der Vidmarhallen in Köniz ist eine gelungene Transformation eines Industriegebiets. Vieles ist derzeit im Bau und auf gutem Weg. «Wankdorf City 3» und «Weyer West» in Bern könnten Erfolgsbeispiele für eine sehr dichte, lebendige und nutzungsgemischte Stadtentwicklung werden. Hier wird es darauf ankommen, ob die in den Entwürfen vorgesehene Kleinteiligkeit in der Gestaltung und Nutzung umgesetzt werden kann. Damit wird die hohe Dichte auf ein verträgliches Mass heruntergebrochen.
Was ist zu beachten bei der Prozessorganisation von Raumplanungsprojekten?
Gemeinden müssen sich die Frage stellen, was es zu erhalten gilt, was man weiterentwickeln kann und was man komplett ändern muss. Dabei sollte man in Quartieren oder Ortsteilen denken, ausgehend von den prägenden Merkmalen, die eine Ortsidentität ausmachen. So bekommt man mit einer Innenentwicklung gleichzeitig eine Qualitätsverbesserung hin, die mehrheitsfähig ist. Der Einbezug der Bevölkerung macht den Prozess zwar länger und teurer, zahlt sich langfristig aber aus.
Was ist zu beachten in Bezug auf den demokratischen Prozess?
Innenentwicklung löst oft Sorgen aus. Man kann damit aber auch Ortsreparaturen vornehmen. Wichtig ist, dass man die Dichte nicht überstrapaziert. Der Mehrwert darf sich nicht nur in der Rendite von Eigentümern oder Investorinnen niederschlagen, sondern muss auch für die Bewohnenden ersichtlich sein. Wird der Strassenraum schöner? Gibt es eine Aufwertung des Freiraums, eine zusätzliche Nutzung, für die in der Gemeinde auch eine Nachfrage besteht?
Wie kann die Regionalkonferenz Gemeinden bei der Raumplanung unterstützen?
Die «Wissensplattform Innenentwicklung» ist ein Format, mit dem wir den Erfahrungsaustausch unter den Gemeinden fördern. Im Mittelpunkt stehen Projekte von Gemeinden, die wir gemeinsam mit diesen umsetzen, sowie wichtige Themen der Innenentwicklung. Die Gemeinden können uns ausserdem kontaktieren, wenn sie beim Start ihrer Ortsplanung oder bei Gebietsentwicklungen einen Sparringpartner suchen. Wir unterstützen Gemeinden bei der Fragenformulierung und Ausschreibung für Innenentwicklungsplanungen.
Dieses Interview erschien zuerst im Berner Landboten