Vor vier Jahren verliebte sich Tamara Grossen auf den ersten Blick in einen jungen Mann mit feinen Gesichtszügen. Ein regnerischer Januar-Abend. Ein ausrangiertes Industriegebäude. Das Trainingslokal der Wrestling Academy Bern. Eigentlich sind das nicht die idealen Umstände für ein Liebeswunder. Doch für die Ringerin Tamara, die sich selbst als nüchtern beschreibt, war die erste Begegnung mit Enayatullah Yousuf genau das: ein Wunder. «Die Tür geht auf. Er kommt herein. Um ihn ist eine leuchtende Aura. Ich bin hin und weg. ‹Das ist er›, denke ich.»
Enayatullah, den alle Eni nennen, erlebte die erste Begegnung weniger euphorisch. Auf seiner Flucht aus Afghanistan nach Bern, wo seine Brüder leben, hatte er viel Ablehnung erfahren, und jetzt war da Tamara, die ihm ohne Vorbehalte entgegentrat. Doch ein Wunder war es für ihn nicht. Auch Eni war Ringer, einer der Besten seines Landes, und weil er etwa gleich schwer ist wie Tamara, begannen die beiden, miteinander zu trainieren. Drei Wochen später kam es zu einem kurzen Austausch von SMS.
Eni: «Wie darf ich in der Schweiz
einer Frau sagen, dass ich mich in sie verliebt habe?»
Tamara: «Schreib einfach: Ich bin verliebt in dich!»
Eni: «Ich bin verliebt in dich.»
Tamara: «Das musst du nicht mir schreiben, sondern der Frau, in die du verliebt bist.»
Eni: «Du bist diese Frau!»
Das war am 7. März 2019. Seither sind die beiden ein Paar. Tamara half Eni bei seinem Eintritt in die Schweiz. Sie half ihm, Deutsch zu lernen, und sie half ihm bei der Suche nach einer Lehrstelle in der Gastronomie. Sie unterstützte ihn, wenn er aufgeben wollte. Aber, meldet sich die Skepsis des Schweizer Reporters: Führt so viel Ge ben und so viel Bekommen nicht zu einem Missverhältnis in der Beziehung? «Die wenigsten Leute wissen, was ich von ihm gelernt habe», sagt Tamara. Der respektvolle Umgang mit Menschen. Geduld. Die Gewissheit, dass Probleme sich meistern lassen. Ruhe. Selbstbewusstsein. Grosszügigkeit. «Es Füfi la grad sii», sagt Tamara. Ein Jahr nach dem Wunder zogen sie in eine gemeinsame kleine Wohnung.
Heute ist Tamara 31 Jahre alt, Eni vier Jahre jünger. Das Glitzern der Verliebtheit hat der Liebe Platz gemacht. Die Skepsis, die sie in ihren Familien erfuhren – Ein Muslim aus Afghanistan! Eine Christin aus der Schweiz! –, hat sich gelegt, jedes ist in der Familie des andern willkommen. Zu denen, die ihre Beziehung immer noch ablehnen, haben sie keinen Kontakt mehr. Mittlerweile sind Tamara und Eni an einem Punkt, wo sie Pläne für die gemeinsame Zukunft haben, und dazu gehören zwei grosse Wünsche: eigene Kinder und ein eigenes, afghanisches Restaurant. Die Kinder, die werden kommen. Die kommen meistens. Da machen sie sich keine Gedanken.
Was das Leben ausmacht
Und so erzählen sie vom Restaurant, das sie eröffnen wollen. Es soll ein elegantes, europäisch geprägtes Restaurant sein. Ein Restaurant mit dezent beleuchteten Tischen und mit einigen Kissen für diejenigen, die auf dem Boden sitzen wollen. Gekocht wird nach afghanischen Rezepten, doch die Speisen und Teller kommen so daher, wie das hierzulande in edlen Restaurants üblich ist. Es soll eine Weinkarte und eine Bar geben. An den Wänden hängen Alltagsgegenstände oder Bilder aus Afghanistan. Nicht zu viele, nicht zu aufdringlich. Eher so wie kleine Aperçus aus einer weit entfernten Kultur. In der Küche steht ein angestellter Koch, Eni pflegt den Kontakt zu den Gästen und Tamara macht die Administration. Nehmt ihr euch da nicht etwas viel vor? Wieder ist da der europäische Skeptiker, der väterliche Freund. Ist es nicht zu schwierig, ein Restaurant mit einer weitgehend unbekannten Küche aufzubauen? «Schwierigkeit ist unsere Paradedisziplin», sagt Tamara. «Ich brauche Herausforderungen», ergänzt Eni. «Sie sind es, die das Leben ausmachen.» Er hat begonnen, neben seiner Arbeit Kochkurse in afghanischer Küche zu geben. Vor einigen Tagen erhielt er eine erste Anfrage für ein Catering. Die beiden haben eine GmbH gegründet, und sie suchen intensiv nach einem Lokal. Es soll Zamarod heissen: Smaragd. Wer den beiden mit einem Tipp weiterhelfen kann, darf sich bei ihnen melden.