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Ein Kinderleben in der Berner Lorraine
Zu seinem Namenstag erzählt der neunjährige Valentin seinem Grossvater, wie sein Leben als Kind aussieht und warum er ganz froh ist, noch nicht so bald erwachsen zu sein.

Wenn Valentin ganz allein sein will, zieht er sich auf die kleine Plattform zurück, die Sascha, ein Freund der Familie, in sein hohes Zimmer gebaut hat. Er klettert die Leiter hoch, zwängt sich vorsichtig durch die Luke, und dann ist er ganz allein in seiner Welt. «Mein zweiter Stock», sagt er. Er spielt mit dem Legobagger oder kuschelt sich in das blaue Duvet, oder er setzt sich in den kindergrossen Polsterstuhl, um zu lesen oder um Musik zu hören. Manchmal sitzt er auch einfach da und lauscht auf die gedämpften Geräusche der andern. Da ist Anina, Mami, die mit tiefer Stimme lachen kann, und wenn sie aufgeregt ist, geht die Stimme hoch. Da ist sein Götti Detti, der nur selten laut wird. Da ist Noëlle, Dettis Tochter, die fröhlich lacht und manchmal kreischt, besonders wenn der Hütehund Blacky zu Besuch ist. Oft ist da auch Mandy, Noëlles Mutter und Dettis Lebensgefährtin, die am andern Ende der Stadt wohnt. Und manchmal ist da auch Philipp, Valentins Vater, der eine Wohnung ebenfalls in der Lorraine hat, nur ein paar hundert Meter entfernt.
Das tönt kompliziert, ist es aber nicht. Für Valentin ist es ein Netz von Familien, und er ist der Mittelpunkt dieses Netzes, so wie die andern der Mittelpunkt ihres Netzes sind. «Cool», sagt Valentin. Macht er in seinem Netz Valentinsgeschenke? «Eher nicht», sagt er. Das heisst «nein».
Ein Valentinsgeschenk
Achtung: Was jetzt kommt, ist eine Erklärung zu den (emotionalen) Interessenbindungen. Weil der Ausgabetag des «Anzeigers» auf den Valentinstag fällt, bat mich meine Tochter Anina, stv. Redaktionsleiterin dieser Wochenzeitung, ein Porträt von Valentin zu schreiben, als Valentinsgeschenk des Grossvaters für seinen Enkel Valentin sozusagen. Ein objektiver Text darf daher nicht erwartet werden.
Es war eine wunderbare Zeit, als Valentin, ein Baby zuerst, dann ein kleiner Bub, jeden Freitag bei mir und meiner Frau verbrachte. Wir sind ungeheuer stolz auf unseren Enkel, der so entschlossen und fast immer gut gelaunt durchs Leben geht. Er sei, sagen die Lehrerinnen, aufgeweckt, lustig, intelligent, sozial, neugierig auf vieles. Auch seine Eltern sagen das. Sie fügen aber noch hinzu, dass er manchmal zu hohe Ansprüche an sich selber stelle. Dass er die Wohnung manchmal mit Tohuwabohu-mässigem Lärm überziehe, und nicht nur für einige Minuten.
Im Park, im Wald, im Kino
Ich frage ihn, wie es sich anfühlt als Kind, in dieser Zeit, in diesem Quartier. Schlechte Frage! Wie soll ein Bub von neun Jahren sagen, wie es sich anfühlt als Bub? Valentin erzählt von Nachmittagen, die er mit seinen Freunden im Park und im Wald verbringt. Er erzählt vom Zauberlaterne-Abonnement für sieben Kinderfilme. Vom Videogame, das er gerade spielt, von der Legomaschine, die er zusammengebaut hat. Er erzählt ernsthaft und mit Freude. Bescheiden und ohne sich selber grösser zu reden. Aber wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein, erfahre ich nicht.
Neuer Anlauf. «Willst du möglichst schnell erwachsen werden?» «Nein!», sagt er und erwähnt die Arbeit, die Verantwortung, die Erwachsene zu tragen haben, und dann sagt er einen Satz, der viel Einfühlungsvermögen verrät. «Erwachsene haben oft keinen Vater und keine Mutter mehr, die ihnen helfen, wenn sie nicht weiterwissen.»
Dass man nicht weiss, wie es weitergehen soll, geschieht immer wieder, bei Erwachsenen ebenso wie bei Kindern. Auch bei Valentin, logisch. Er stromert zwar selbstständig in der Lorraine herum, findet allein seinen Weg ins Kino oder ans Konsi und macht sich so die Welt weiter. Seine Hindernisse und Zweifel aber will er nicht in der Zeitung haben. Deshalb greife ich zu Metaphern. Wenn man vor einem Berg steht, der unüberwindbar hoch und steil erscheint. Wenn die Nacht undurchdringlich dunkel ist. Wenn eine Fremdsprache oder ein Gedicht einfach nicht in den Kopf will. Es geht nicht, sagt man dann. Unmut, Wut, sogar Verzweiflung machen sich breit. «Das schaffe ich nie», sagt auch Valentin manchmal.
Du schaffst es, sagen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer. Sie führen das Kind an den steilen Berghang, zeigen ihm den Weg bis zu dem Punkt, wo es von alleine geht. Das ist es, was Eltern tun sollen. Verlässlich da sein, wenn das Kind nicht mehr weiterweiss. Das Kind bei der Hand nehmen, ohne zu befehlen, ohne zu fordern.
In einem Gespräch zu diesem Porträt bringt es Valentin auf den Punkt. «Der Vorteil der Grossen ist, dass sie mehr tun dürfen, dass sie mehr wissen und mehr können.» Und die Kinder? «Der Vorteil von uns Kindern ist es, dass wir verwöhnt werden.» Mit «verwöhnt werden» meint Valentin nicht Geschenke, Schleckwaren oder Kinobesuche. «Verwöhnt werden heisst, dass sie uns helfen und dass wir uns auf sie verlassen können», sagt er. «Und du kannst dich auf sie verlassen?» Die Antwort ist einfach und unsentimental: «Ja.» Und das ist ja wohl das schönste Valentinsgeschenk, das ein Kind seinen Eltern machen kann.
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