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Ein Sturm durch die Weltgeschichte

Der Schriftsteller und Fotograf Fritz Mühlemann aus Meikirch legt mit «Föhn.Sturm» ein Prosagedicht vor, das durch die Jahrtausende weht, angefangen im Holozän. Dabei jongliert er geschickt mit Fitkion und Fakten; Fotografien, historische Dokumente und Grafiken geben die Atmosphäre vergangener Zeiten wieder, die Mühlemann literarisch bearbeitet und kommentiert.

| Bettina Gugger | Kultur
Fritz Mühleann
Fritz Mühlemann war schon immer an Geschichte interessiert: Foto: Nik Egger

Die Inspiration zu seinem aktuellen Buch «Föhn.Sturm» fand der in Meikirch lebende Schriftsteller Fritz Mühlemann an der Feier zum 100-jährigen Jubiläum der Zimmerwaldkonferenz, die 1915 die europäischen Sozialisten in Zimmerwald versammelte, darunter Wladimir Lenin und Leo Trotzki höchst persönlich. An der Jubiläumsfeier las Fritz Mühlemann im Gasthof Löwen in Zimmerwald den Bericht des Gemeindepräsidenten Fritz Brönnimann, Sohn des vormaligen Gemeindepräsidenten Fritz Brönnimann; im Dorf kümmere man sich kaum um die grossen Vorgänge der Geschichte. «Die Ereignisse draussen in der grossen Welt waren für unsere Bevölkerung kaum mehr als ein Wellenschlag», so der Wortlaut Brönnimanns. Die Zimmerwaldner verboten gar Lenin-Gedenktafeln per Gesetzgebung.
«Diese Weltabgewandtheit ermutigte mich dazu, meine eigene Fritzen-Geschichte aus Bönigen ins Weltgeschehen einzubetten», so der Schriftsteller. «Als vierter Fritz in Folge / bin ich mit mir selbst / nicht allein», dichtet er in «Föhn.Sturm», eine Anspielung auf das Beharren auf der eigenen Individualität angesichts der gleichnamigen Vorangegangenen.

Zeit für Recherche

Mühlemann arbeitete erst als Jugendpsychologe auf der Erziehungsberatungsstelle, bot später Supervisionen und Organisationsberatungen an. Zuletzt arbeitete er als Bereichsleiter an der BFF Bern. Nach der Pensionierung fand er die Zeit für Recherchen und
für das Schreiben.
«Geschichtlich interessiert war ich schon immer», so Mühlemann. Unzählige Stunden verbrachte er im Archiv des Verlags Schläfli und Maurer in Unterseen, der seit 122 Jahren für die Herausgabe des amtlichen Anzeigers von Interlaken verantwortlich ist. So fanden beispielsweise Zeitungsberichte zum Tod seines Urgrossvaters Eingang ins Buch. Fritz I war Coiffeur und Gemeinderat in Interlaken: «Fritz pröbelt / in seinem Labor über dem Friseursalon / gern bis spät in die Nacht /mit Lotion Mischungen und / allerhand sonstige Lösungen und Chemikalien», so Mühlemann über den Erfindergeist seines Urgrossvaters, der ihm zum Verhängnis wurde: «Eine der Mischungen beginnt zu brennen / das Feuer breitet sich rasend im Labor aus /erreicht das Fässchen Schiesspulver /  bringt dieses zur Explosion / in der Not springt Fritz durchs Fenster / in den Hof hinunter / macht noch ein paar heftige Flugbewegungen / bricht sich beim Aufprall das Genick / aus der Traum vom Gold». Er habe lachen müssen, als sein Vater ihm vom Schicksal seines Urgrossvaters erzählt habe, so der Autor, obwohl die Geschichte ja tragisch sei.

Der Unternehmergeist der Mühlemanns

Die Mühlemanns zeichnen sich durch ihren Unternehmergeist aus. Ururgrossvater Ulrich Mühlemann errichtete auf der Heimwehfluh eine Trinkhalle, die zum Wallfahrtsort werden sollte. Die Eröffnung des Bahnbetriebes erlebte Sohn Fritz I, besagter «Alchemist», leider nicht mehr; die Restauration ging nach seinem Tod an den Kanton Bern. Eine Postkarte – oder heute würde man wohl von einem Flyer sprechen – warb mit den Worten «Wundervolles Alpenpanorama, herrliche Aussicht auf die Gletscherberge, Jungfrau, Mönch und Eiger, den Thuner- und Brienzersee». Diese Karte fand der Autor Fritz Mühlemann, der selbst ­leidenschaftlicher Postkartensammler ist, eines Tages in seinem Briefkasten. Der heute gängigen Reihenfolge «Eiger, Mönch und Jungfrau» entspricht der Blick von Norden aus auf das Dreigestirn, den Eiger links im Blickfeld. Die Betonung auf der Jungfrau mag auf die Bedeutung der Augustinerinnen referieren, die einst die Alp Jungfrauenberg in Wengen bewirtschafteten, welche namensgebend für das ganze Bergmassiv wurde.

Zwischen Faktizität und Fiktion

Postkarten, Fotografien und weitere historische Grafiken entführen ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, wobei Mühlemanns Text dieser behaupteten Faktizität Leben einhaucht. Er dichtet über dokumentarische Lücken hinweg und fiktionalisiert tatsächlich stattgefunden habende Ereignisse wie jenes Schiffsunglück bei der Uttigenflueh zwischen Thun und Bern, bei dem 18 Menschen ums Leben kamen. Ururgrossvater Ulrich habe das Unglück überlebt, behauptet der Ururenkel. Fritz Mühlemann lacht schelmisch: «Mein Ururgrossvater hat sich nicht auf diesem Schiff befunden», aber eine schwarze Zipfelmütze, wie im Text beschrieben, habe er tatsächlich getragen. Davon zeugt ein Foto, das Ulrich vor seinem Coiffeurgeschäft am Höheweg in Aarmühle zeigt.
Das Schiffsunglück bei Uttigen findet eine Spiegelung im Schiffsunglück auf dem Eriesee, bei dem laut Mühlemann nach einer Explosion im Maschinenraum die Böniger Geschwister Susanna, Johannes und Elisabeth Mülimann ums Leben kamen; eine Katastrophe, wie sie Theodor Fontane in der Ballade «John Maynard» beschrieb und die auch in Mühlemanns Prosagedicht widerhallt. Es ist die Zeit der Armut in Europa und der Hoffnung auf ein neues Leben in Amerika. Agenturen warben für ihre Fahrten mit dem «Schnelldampfer» nach New York, Boston, «Rio Janeiro» oder «Buenos Ayres» wie Mühlemann mit Inseraten aus dem «Hardermannli», der Sonntagsbeilage zum Oberländischen Volksblatt belegt.
Die Erzählstimme ergänzt, kommentiert auf humorvolle Weise die Ereignisse und bettet die Familiengeschichte geschickt ins grosse Weltgeschehen ein.

Die besondere Ruhe

Dabei fegt Fritz Mühlemanns Sprache wie der titelgebende Föhnsturm durch die Vergangenheit des Bödeli, der Ebene zwischen Thuner- und Brienzersee. Der Autor wirbelt in der Geschichte herum, greift sich Ereignisse heraus, schichtet um und legt frei – wie etwa das Bödeli erst ums Jahr Tausend entstanden sei. Trotz dieses Sturms, der durch Jahrtausende weht, liegt eine ganz besondere Ruhe in Mühlemanns Zeilen, die ihre höchste Kraft entfalten, wenn sie auf die Gegenwart Fritz IIII, des Autors, referieren und dabei alle Zeiten einschliessen:
«Tobt der trockene Fallwind / über das Bödeli / deckt er Häuser und Ställe ab / entwurzelt Bäume / reisst Felsstücke los / wirft Boote auf den Seen umher. / Am Himmel dräuen Zeppelinwolkenschiffe / Glockentöne und Wildbachtosen / dringen von weither ans Ohr / Kreuzottern verlassen ihre Schlupfwinkel / zischeln giftig / die Hornissen sind reizbar / kein Singvogel zu hören / der unergründliche Atem des Herrn / bricht aus der Stille.»

 

Bibliothek Münstergasse, 25. April, 12.00 Uhr, Buchvernissage, Fritz Mühlemann im Gespräch mit Ruth Gantert.
«Föhn. Sturm», edition clandestin, 2024.
Weitere Infos: frizzmuehlemann.ch
aprillen.ch / 24. bis 27. April


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