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«Von Graffenried wirkt fahrig und ist ein schlechter Kommunikator»

Politikberater Mark Balsiger traut der wenig bekannten GB-Frau Ursina Anderegg zu, den amtierenden Berner Stadtpräsidenten Alec von Graffenried aus dem Gemeinderat zu
verdrängen. Auf der bürgerlichen Seite rechnet er mit einem Zweikampf zwischen der FDP-Kandidatin Florence Pärli und Béatrice Wertli (Mitte). 

| Fabian Christl | Politik
Politikberater Mark Balsiger.
Politikstratege Balsiger rät der GLP zu einem Zweckbündnis mit den Mitte-rechts Parteien. Foto: zvg.

Herr Balsiger, wenn sich EVP, GLP, Mitte, FDP und SVP für die Gemeinderatswahlen zusammenschliessen, verliert Rot-Grün-Mitte (RGM) einen Sitz, heisst es. Kann man das so absolut sagen?

Auf Basis der Wahlresultate 2020 sehen wir, dass ein Bündnis Mitte-Grün-Rechts tatsächlich zwei Sitze erringen würde, ja.

Das angestrebte Mitte-rechts-Bündnis ist in der GLP umstritten. Es würde für sie die Wahrscheinlichkeit eines Sitzes in der Stadtregierung massiv erhöhen, allerdings könnte eine gemeinsame Liste mit der SVP auch Wähler vergraulen. Was würden Sie der Partei raten?

Die Gefahr, dass sich einige Mitglieder und Sympathisantinnen von der Partei abwenden, ist da. Aber die GLP ist hinter der SP und dem Grünen Bündnis (GB) inzwischen die drittstärkste Partei in der Stadt Bern. Da liegt es auf der Hand, dass sie ihren ambitioniertesten Figuren Karrierechancen eröffnen muss. Nur mit einer gemeinsamen Liste besteht angesichts des Stadtberner Wahlsystems für die GLP die Chance auf ein Exekutivmandat. Das Festhalten an der reinen Lehre ist nicht zielführend, sie würde ohne die Mitte-Grün-Rechts-Liste den Sitz kaum holen.

Sie sprechen von der «reinen Lehre», die Gegner davon, ein bisschen Haltung zu bewahren. Schliesslich stehe die SVP für gegenteilige Werte als die GLP.

Klar, die Positionen der GLP und der SVP unterscheiden sich massiv, allerdings ist auch die Differenz zwischen RGM und GLP nicht zu unterschätzen. Aber in der Schweiz lassen sich ohne Allianzen keine Fortschritte erzielen. Das bedingt Kompromisse. Ausserdem wäre die GLP stärkste Partei auf dieser Liste. Sie würde also von jeder SVP-Stimme profitieren – und nicht umgekehrt, wie es in RGM-Kreisen aus wahlkampftechnischen Gründen heisst.

Würden Sie es begrüssen, wenn die Mitte-rechts-Parteien künftig mit zwei Personen im fünfköpfigen Gemeinderat vertreten wären?

Das RGM-Lager ist so gross, dass es sich nicht mehr anstrengen muss, um Mehrheiten zu erzielen. Ausgeglichenere Lager würden den politischen Wettbewerb offener gestalten und RGM anspornen, die Vorlagen besser vorzubereiten.

Was würde sich denn mit einem 3:2 im Gemeinderat ändern? Volk und Parlament würden ja weiterhin klar links ticken.

Man darf die Wirkung eines zusätzlichen Exekutivmandats auf die Parteien, die jetzt nicht im Gemeinderat vertreten sind, nicht unterschätzen. Sie haben eine direktere Möglichkeit, mitzugestalten. Es hat aber auch Signalwirkung und könnte Personen, die diesen Parteien nahestehen, dazu animieren, sich politisch zu engagieren.

Das mag für die Parteien relevant sein. Für die Bevölkerung ist aber wichtig, ob die Steuern sinken oder ob es mehr Park­plätze gibt.

Bei einem 3:2 wären die Diskussionen im Gemeinderat offener. Je nach konkreter Zusammensetzung käme es häufiger zu Ergebnissen, die nicht nach reiner Parteilogik riechen. Womöglich würde etwa die frivole Ausgabenpolitik der letzten Jahre hinterfragt.

Auf linker Seite ist bereits absehbar, wer einen Platz auf der Liste erhalten wird. Neben den Bisherigen Marieke Kruit (SP) und Alec von Graffenried (GFL) sind das Ursina Anderegg (GB) und voraussichtlich Matthias Aebischer (SP). Wer davon wird leer ausgehen?

Kruit und Aebischer halte ich für gesetzt. Kruit hat den Bisherigen-Bonus und bislang gute Arbeit geleistet. Aebischer werden seine Bekanntheit und Popularität zur Wahl verhelfen. Der dritte Sitz werden von Graffenried und Anderegg unter sich ausmachen.

Was hat denn von Graffenried falsch gemacht, dass er als amtierender Stadtpräsident um die Wiederwahl zittern muss?

Er tut sich schwer. So hat er etwa Defizite im Führen der Spitzenleute in der Verwaltung. Es ist bei ihm auch keine klare Linie erkennbar, er wirkt fahrig. Und er ist ein schlechter Kommunikator. Er widerspricht sich manchmal in einem einzigen Interview selbst. Der Unmut über ihn ist überall spürbar. Allerdings ist er ein guter Wahlkämpfer und hat überall Zugang. Man sollte ihn deshalb nicht abschreiben.

Ursina Anderegg hat ein Manko in Sachen Bekanntheit. Was spricht dennoch für sie?

In meiner Wahrnehmung ist sie ehrgeizig und intelligent, und sie hat mit dem Grünen Bündnis eine verschworene Truppe hinter sich, die sich stark für sie einsetzen wird. Als Frau und GB-Mitglied kann sie bei der SP-Basis besser punkten als von Graffenried, der mehr als nur einen bürgerlichen «Touch» besitzt. Das Manko der mangelnden Bekanntheit hat die Partei erkannt und eine Strategie entwickelt, um dies zu ändern. Wenn Anderegg im Wahljahr zahllose Hände schüttelt und nahe an die Menschen herankommt, könnte das funktionieren.

Auf ihre Führungserfahrung angesprochen, verwies sie auf ihre Pfadilaufbahn. Das war kommunikativ ungeschickt, oder?

Sie hat auch auf ihre Erfahrung in der Projektleitung und als Co-Fraktionspräsidentin verwiesen. Ich halte es für besser, eine gute Pfadileiterin zu sein als ein menschlich schlechter Offizier. 

Auf der Mitte-rechts-Liste kandidieren voraussichtlich Béatrice Wertli (Mitte), Janosch Weyermann (SVP), Florence Pärli (FDP) und entweder Marianne Schild oder Melanie Mettler für die GLP. Welche beiden werden es schaffen?

Die GLP würde aufgrund ihrer Parteistärke einen Sitz holen, wobei die Ausgangslage für Mettler aufgrund der grösseren Bekanntheit und ihrer erfolgreichen Arbeit im Nationalrat nochmals besser ist. Doch auch mit Schild als Kandidatin gehe ich davon aus, dass die GLP den Sitz erringt. Den zweiten Sitz holt entweder die Mitte oder die FDP.

Der SVP räumen Sie keine Chance ein? Mit Janosch Weyermann kandidiert doch ein intelligenter, zugänglicher und zumindest im Ton gemässigter Vertreter.

Das ist so, er ist ein Lichtblick in dieser Partei. Allerdings ist Weyermann noch nicht einmal 30 Jahre alt und zu wenig lange politisch aktiv, man kennt ihn noch längst nicht überall. In vier Jahren könnte es aber anders aussehen.

Mitte-Kandidatin Wertli steht bisher nicht so im Fokus. Wird sie unterschätzt?

Das nehme ich anders wahr. Sie hat ein grosses Selbstbewusstsein und sorgt dafür, dass man über sie spricht. Sie ist gut vernetzt, hat die Kondition für einen langen Wahlkampf und die Fähigkeit, in unterschiedlichen Gruppen rasch Anschluss zu finden. Zuweilen wirkt sie übermotiviert, was «Gäng-wie-gäng»-Berner zurückschrecken lässt.

Die FDP hat Florence Pärli nominiert. Dabei hat man eigentlich mit einem Zweikampf zwischen Claudine Esseiva und Christoph Zimmerli gerechnet. Wie schätzen Sie das ein?

Esseiva hat lange mit sich gerungen – und schliesslich abgesagt. Bei Zimmerli gewann ich den Eindruck, dass ihn das Politisieren zunehmend aufreibt, also verzichtet er. Die Nomination von Pärli Schmid finde ich bemerkenswert, weil sie erst seit 2020 im Stadtrat ist, notabene als Jungfreisinnige. Die 33-Jährige gibt der FDP ein junges Gesicht – das kann der Partei nur guttun. Die Juristin ist talentiert, selbstbewusst und unbekümmert. Sie redet nur von Themen, mit denen sie sich auskennt. Das Dampfplaudern überlässt sie anderen.

Zur Person

 

Politik- und Kommunikationsberater Mark Balsiger beobachtet die Politik in Stadt und Kanton Bern seit 20 Jahren. Seit 2002 führt er eine Kommunikationsfirma, die spezialisiert ist auf Krisenkommunikation, Medientraining, Öffentlichkeitsarbeit und Politikanalyse. Er schrieb bislang drei Bücher über politische Kommuni­kation, Nummer vier erscheint im kommenden Herbst. Im Stadtberner Wahljahr 2024 berät er weder Kandidierende noch Parteien. (fac)

www.border-crossing.ch


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