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Weggehen und Ankommen

Vor über 100 Jahren flüchteten hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer aus wirtschaftlichen Gründen aus der Schweiz. Das Freilichtmuseum Ballenberg widmet ihnen eine Ausstellung. Wie «Anzeiger»-Kolumnistin Regula Rytz schreibt, ermöglicht sie uns ein besseres Verständnis für die Menschen, die heute auf der Suche nach Schutz oder einem besseren Leben sind. 

| Regula Rytz | Politik
Regula Rytz. Foto: zvg
Regula Rytz. Foto: zvg

Was löst das Wort Ballenberg bei Ihnen aus? Bilder von ländlicher Idylle, romantischen Gärten, traditioneller Handwerkskunst? Ja, all das findet man in diesem einzigartigen Freilichtmuseum in der Nähe von Brienz. Es ist dem «materiellen und immateriellen Kulturerbe der bäuerlich-gewerblichen Schweiz» gewidmet. Aber man findet noch sehr viel mehr. Man findet Hinweise auf Hungersnöte, harte Arbeit und enge Verhältnisse. Man erlebt die Kälte und die Dunkelheit in den schön hergerichteten Häusern, wo früher feuchte Winde durch die Ritzen zogen. Und wir ahnen, dass das Leben damals alles andere als idyllisch war. Zumindest für die, welche vor allem die Schattenseiten des Lebens kannten. Die Kinder von ledigen Müttern oder armen Bauern zum Beispiel, die auf Märkten als billige Arbeitskräfte feilgeboten wurden. 

Jeremias Gotthelf beschreibt ihr Leiden in seinem «Bauernspiegel» in drastischen Worten. Ein Ausweg war für viele junge Männer damals der Solddienst in fremden Armeen. Immer mehr wanderten Menschen ohne Perspektive hierzulande aber auch nach Übersee aus. Zwischen 1850 und 1914 suchten über 300 000 Schweizer:innen in der Fremde ihr Glück. Einige fanden es und andere nicht. Ein ständiger Begleiter war das Heimweh, wie es der Tessiner Plinio Martini in seinem Roman «Nicht Anfang und nicht Ende» eindrücklich beschrieb.

Der Geschichte dieser Emigration ist die neuste Ausstellung im Ballenberg gewidmet. Sie zeigt auf, dass das Weggehen für viele Bewohner:innen der ländlichen Schweiz eine «normale» Form der Existenz­sicherung war. Der Schwager von Anna Gloor aus dem Taglöhnerhaus von Leutwil zum Beispiel ging 1857 in den Kriegsdienst nach Batavia (Niederländisch-Indien), um ein Einkommen zu erwirtschaften. Er kam nie zurück. Anders als Giuseppe Giulieri aus dem Tessin. Dieser reiste 1910 mit seinen Brüdern zusammen auf Arbeitssuche in die USA. Bei seiner Rückkehr stellte er fest, dass sich seine Region in der Südschweiz kaum entwickelt hatte. Arbeitskräfte und Veränderungswille fehlten. Wer etwas bewegen wollte, packte die Koffer.

So ist es noch heute in vielen Ländern dieser Welt. Zum Beispiel in Nepal, wo fast die Hälfte der jungen Menschen nach Indien oder Katar reist, um teils unter katastrophalen Umständen ein mageres Auskommen zu suchen. Die Parallelen zur heutigen Situation haben das Ballenberg-Team dazu veranlasst, über den Tellerrand der ländlichen Schweiz hinauszuschauen. Mit der Entwicklungs­organisation Helvetas zusammen hat es eine Ausstellung geschaffen, die Menschen über die Zeit- und Landesgrenzen hinaus verbindet. Simon Gerber aus Wasen mit der jungen Ukrainerin Irina Odinabecova zum Beispiel. Der Täufer floh 1671 vor den Berner Obrigkeiten ins Elsass, um der Folter zu entgehen. Sie floh mit ihren Kindern 2022 aus Odessa nach Moldavien, um sich vor russischen Raketenangriffen zu schützen. Oder Abdul Akter aus Bangladesch, der – ähnlich wie damals Giuseppe Giulieri aus dem Tessin – wegen fehlendem Landbesitz und Job in einen Golfstaat auswandert. Anders als im Kanton Bern des 19. Jahrhunderts hat ihm seine Heimatgemeinde allerdings keinen «Auswanderungszustupf» bezahlt.

Die Ausstellung «weltweit unterwegs» vermittelt Gründe für Migration und Mobilität sowie deren Potentiale und Risiken. Und sie zeigt, dass Migration kein neues Thema, sondern eng mit der Geschichte der Schweiz verwoben ist. Damit ermöglicht sie uns, die Menschen, die heute unterwegs sind, besser zu verstehen. Und zu fragen: Was ist, wenn ich einmal aufbrechen will oder muss? Was wären meine Hoffnungen – und was meine Ängste? Die Migrationsgeschichten regen dazu an, Mitgefühl zu zeigen für das Leiden anderswo und die verzweifelte Suche nach Sicherheit und Auskommen. Der Ballenberg ist in diesem Sommer definitiv eine Reise wert!

Zur Person:

Regula Rytz ist Historikerin und Präsidentin von Helvetas. Sie war Präsidentin der Grünen Schweiz, Nationalrätin sowie Gemeinderätin der Stadt Bern. 


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