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Von der Hebamme zur Liftlady
Seit Anfang März ist Christine Gerber Kondukteurin am Mattelift, der das Berner Mattequartier mit der Münsterplattform verbindet. Sie hat sich damit einen Kindheitstraum erfüllt.

Als Christine Gerber ein Kind war, drückte ihr die Grossmutter auf der Münsterplattform jeweils ein «Zwänzgi» in die Hand. Gerber durfte damit mit dem «Senkeltram», wie der Mattelift auch heisst, in das Quartier runter- und wieder hochfahren. Sie erinnert sich an den Bauchladen des Kondukteurs, die glänzenden Uniformknöpfe und seine Schirmmütze. Diese Erscheinung beeindruckte sie stark – sie wollte auch Kondukteurin werden.
Schichtwechsel am Senkeltram
Seither sind sechzig Jahre vergangen, und Gerber hat sich ihren Kindheitstraum erfüllt. Die Liftfahrt kostet inzwischen etwas mehr, Schirmmützen sind nicht mehr in Mode, und seit 2020 ist mit Maja Mores auch eine erste Frau im Dienst. Und doch ist es für Gerber überfällig, dass diese «Männerbastion» fällt. Sie zwinkert, und ihre grauen Locken springen auf und ab. Es sollte doch längst normal sein, dass Frauen und Männer gleichermassen den Mattelift bedienen, findet die Stadtbernerin. Sie löst denn auch den langjährigen Liftboy Matti Kohli ab, der sich fortan mehr der Musik widmen will.
Der Mattelift ist für Gerber das vorläufige Ende einer Karriere mit vielen Kurven. Eigentlich ist Gerber gelernte Hebamme. Lange war sie in einer Praxis angestellt; vor acht Jahren wechselte sie zur Notfallnummer Medphone. Dort nahm sie Anrufe entgegen und machte telefonisch Triage – «guet chönne schnurre», das könne sie, sagt Gerber. Damit erfüllt sie bereits das wichtigste Kriterium für eine gute Mattelift-Kondukteurin.
Für den Wechsel entschied sich die heute 64-Jährige im Dezember aus Begeisterung, aber auch aus finanziellen Überlegungen. Die Blindbewerbung für den Lift war rasch geschrieben und ebenso rasch bestätigt. Nun kann Gerber Verantwortung abgeben – endlich. Ihr ganzes Berufsleben hat sie in der Medizin verbracht – in Begleitung der ständigen Angst, einen gravierenden Fehler zu machen.
«Langweilig war’s ihr nie»
Ruhiger wird es aber für Gerber nicht. Sie füllt einen satten Teil ihrer Wochen damit, für andere Verantwortung zu übernehmen. Sie hütet Grosskinder, engagiert sich im Asylbereich und in der Nachbarschaft. Zusätzlich schaut sie zum Haus, in dem sie wohnt, zu Katze und Hund und fünf Schildkröten. Zeit für sich allein hat sie nur, wenn sie schläft oder sich durch ihre grosse Bibliothek liest.
Auch politisch ist Gerber vielseitig interessiert – obwohl sie von parlamentarischer Politik wenig hält. Gerade was Care-Arbeit angeht, zweifelt sie, ob man auf diesem Weg die Umstände verändern kann. Zwar sei in puncto Kinderbetreuung seit ihrer Zeit als alleinerziehende Mutter schon einiges geschehen, jedoch bestehe immer noch grosser Nachholbedarf. Früher sei es für Gerber unmöglich gewesen, mit zwei kleinen Kindern weiterhin als Hebamme zu arbeiten. Als sie später zurück in den Beruf wollte, durfte sie nicht, weil die Anforderungen geändert worden waren und eine Weiterbildung finanziell nicht drin lag. Jetzt springt sie als Grossmutter regelmässig ein. So könne sie zwar ihre Kinder etwas entlasten, es sei aber keine nachhaltige Lösung. «Da oben kann ich nichts ändern», sagt sie mit einem Blick aufs Bundeshaus, «ich schaue lieber, dass es in meiner kleinen Welt den Leuten gut geht.»
Dafür ist Gerber immerzu unterwegs. «Wenn ich mal sterbe, dann können sie sagen: ‹Langweilig war’s ihr nie›», sagt sie und lacht laut auf. Sie finde immer ein Problem, mit dem sie sich beschäftigen könne. Von einer Verpflichtung zur nächsten düst sie mit ihrem Lastenvelo, die Hündin und Grosskinder haben darin perfekt Platz. Trotz allem, was die gebürtige Fischermättelerin in Bern hält, hat sie grosse Lust auszuwandern. Noch einmal neu beginnen, irgendwo im Süden, wo es nicht schneit.
Gelassen an der Talstation
Aber vorerst hat der neue Job Priorität. Um den alteingesessenen Mättelern entgegenzukommen, hat sich Gerber beim Matteänglisch-Club angemeldet. Zudem hat sie sich zum ersten Mal einen Computer gekauft, um die durchschnittlich 770 Passagiere täglich tabellarisch zu erfassen.
In all der Hektik ihres Alltags scheint ihr die Lockerheit am Mattelift entgegenzukommen. Seit der Coronapandemie fahren die Liftboys und -ladys nicht mehr mit, sondern warten an der Talstation in der Badgasse. So bleibt ihnen mehr Zeit für einen Schwatz mit den Mättelern oder Spaziergängerinnen vor den knapp 32 Metern Höhenflug. Gerber freut sich auf die Gespräche: Eben, «guet schnurre», das habe sie schon beim Notfalltelefon oft gemacht – und jetzt darf sie das ohne jeglichen Zeitstress.
Wichtig nehmen will sich Gerber deswegen aber nicht. Sie ist erstaunt über das öffentliche Interesse an ihrer neuen Stelle – Bundesrätin werde sie schliesslich nicht. Doch auch wenn die parlamentarische Politik denen «da oben» vorbehalten bleiben sollte: Für die Mättelerinnen und Mätteler hier unten wird die neue Kondukteurin wohl mindestens so wichtig sein.
Mattelift
1897 fand die erste Fahrt des Mattelifts statt, damals noch mit zwei Kabinen und auf Holzschienen. Der Fahrtarif: 10 Rappen. Jetzt, über 127 Jahre und einige Umbauten später, kostet eine Einzelfahrt 1.50. Im «Senkeltram», wie der Lift auch genannt wird, werden inzwischen auch GA oder Libero-Abos akzeptiert. Zwischen 20.30 und 6.00 Uhr muss man aber zu Fuss über die Mattetreppe: Dann machen die Liftboys und -ladys eine wohlverdiente Pause.
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