«Glänzende Aussicht» ist das Portrait einer Familie in Wuhan in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Elf Menschen leben in einem Raum, einer kleinen Baracke, die alle paar Minuten von einem vorbeifahrenden Zug durchgerüttelt wird. Vater, Mutter, sieben Söhne, zwei Töchter. Die Söhne haben keine Namen, nur Nummern in der Reihenfolge, in der sie geboren wurden. Bruder acht ist als Baby gestorben, was er nun als Privileg empfindet, liegt er doch in Ruhe unter dem Küchenfenster begraben und erzählt uns von dort die Geschichte seiner Familie. Der Vater arbeitet in den Docks am Hafen, trinkt und schlägt und erzählt immer dieselben Heldengeschichten, Mutter schimpft und flirtet in einem fort, und schon die Kinder lernen zu stehlen, denn ständig fehlt es an allem. Die Kulturrevolution sorgt für weitere Härte. Fäuste werden nicht nur eingesetzt, um Macht und Gewalt zu demonstrieren, sondern auch um sich Raum zu verschaffen, das zu tun, was getan werden muss.
Doch inmitten dieses gewalttätigen Geschehens blitzen immer wieder Szenen grosser Menschlichkeit auf. Bruder sieben verliebt sich in ein Mädchen, weil er es lachen sieht. Bruder zwei und Bruder drei sind Zwillinge, unzertrennlich, bis Bruder zwei an Liebeskummer stirbt. Und zum Schluss der Geschichte, als nur noch die Eltern in der Baracke wohnen und sie umgesiedelt werden sollen, gräbt der Vater Bruder acht aus, damit dieser neben Bruder zwei gelegt werden kann. Wie ein liebendes altes Ehepaar sehen sie aus, meine Eltern, denkt Bruder acht, als Vater ihn aus der Erde hebt. Hell und klar ist der Tag und Sonnenstrahlen tauchen die kleine Kammer der Familie in gleissendes Licht.
«Glänzende Aussichten» erregte bei seinem Erscheinen 1987 in China grosses Aufsehen. Doch seit Fang Fang während der Covidpandemie ihr «Wuhan Diary» schrieb, werden in China ihre Bücher nicht mehr gedruckt und verkauft. Dass wir diese Autorin hier bei uns auf Deutsch lesen können, empfinde ich als ein bereicherndes Geschenk.
Fang Fang: «Glänzende Aussicht». Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann, Hoffmann und Campe Verlag, 2024.
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