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Der Besuch der grossen Dame
Am Donnerstag, 15. August, tritt im Schloss Holligen Etta Scollo mit Francesco Micieli auf. Scollo singt, Micieli liest. Am Samstag liest und singt Hanna Schygulla über das Leben der berühmten Schriftstellerin Marieluise Fleisser. Die Ausstellung Egbert Moehsnang sowie die Film- respektive Musikvorführungen «Tod Trauer Trapani» laufen weiter.
Ingolstadt ist eine bayrische Stadt in Berns Grösse an der Donau. Mit dem 1929 uraufgeführten Stück «Pioniere in Ingolstadt» hat die Schriftstellerin Marieluise Fleisser (1901–1974) die Stadt auf die literarische Landkarte gesetzt.
Im Jahr 1926 helfen Pioniere der Wehrmacht der Deutschen Republik in Ingolstadt, eine Brücke zu bauen. Das unerfahrene Dienstmädchen Berta lässt sich mit dem Soldaten Karl ein, der sie bald sitzen lässt. Marieluise Fleissers als Komödie bezeichnetes Stück erzählt lakonisch über Liebe, Gewalt, unerfüllbare Sehnsucht, über die Ausweglosigkeit des Lebens der sogenannt kleinen Leute.
Von den «Pionieren» gibt es mehrere Fassungen. Die erste fiel in Dresden durch. Die zweite, von Bertold Brecht mitgestaltete Fassung verursachte 1929 am Berliner Schiffbauerdamm einen Skandal. Die dritte Fassung brachte Rainer Werner Fassbinder 1970 unter dem Titel «Zum Beispiel Ingolstadt» in München zur Aufführung; er verfilmte den Stoff gleich auch für das Zweite deutsche Fernsehen, das den Film 1971 ausstrahlte. Im Film spielt Hanna Schygulla das vergewaltigte Dienstmädchen Berta.
«Es geht weiter»
2001 hat die Theaterautorin Kerstin Specht im Auftrag der Behörden von Ingolstadt zum 100. Geburtstag Marieluise Fleissers das Leben der grossen Autorin nachgezeichnet. Das Werk «Marieluise, ein Bericht» wurde im Februar 2024 in München zu Fleissers 50. Todestag in einer szenischen Lesung mit Hanna Schygulla und der Klanggestalterin Etta Scollo wieder aufgeführt.
Über diese Aufführung hat Ursula Wiest geschrieben: «Dass die Tochter des oberschlesischen Holzhändlers Josef Schygulla mit der Tochter des Ingoldstädter Zeugschmieds und Eisenwarenhändlers Heinrich Fleisser in nahezu seelenschwesterliche Beziehung treten kann, dass Hanna auf der Bühne diejenige Marieluise spricht, lebt und inkarniert (…) hat sich schon mehrfach gezeigt. (…) Schygulla liest, rezitiert und wiegt sich traumverloren summend zum Takt der Melodien von Schlagern und Chansons, die episodisch im Erinnerungsmonolog der fiktiven Fleisser auftauchen. Scollo erschafft mit Reiskörnern, Tamburin und Gitarre beredt klangmagische Bilder, die fast wie Zirkusseifenblasen im Zuschauerraum zu schweben scheinen.» (Literaturportal Bayern).
Schygullas letzte Sätze von oder für Marieluise Fleisser: «Es geht weiter. Ich tanze wieder. Viel Zeit bleibt mir nicht.»
Etta Scollo (und Mascha Kaléko)
Etta Scollo, In den späten 1950er Jahren in Sizilien aufgewachsen, in Paris und Berlin zu Hause, führt und entwickelt die musikalische Tradition ihrer Heimat weiter, wie sie auch in «Tod Trauer Trapani» zu hören ist. Es sind Elemente des Jazz, freie Assoziationen, die ihre Musik prägen, die auf die heimatliche Volksmusik zurückgeht. Letztes Jahr kam ihr jüngstes Album heraus, «Ora».
Vor kurzem trug die «Stimme Siziliens» in München Texte der Berliner Lyrikerin Mascha Kaléko (1907–1975) vor und gestaltete ein Programm, das ihre Musik und Kalékos schnoddrig-zärtliche Verse verbindet. Ein Gedicht, um das Besondere zu erahnen:
«Memento / Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang /Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. /Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da / sind? // Allein im Nebel tast ich todentlang /Und lass mich willig in das Dunkel treiben. / Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das / Bleiben. // Der weiss es wohl, dem Gleiches widerfuhr; / – Und die es trugen, mögen mir vergeben. /Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, / Doch mit dem Tod der andern muss man / leben.»
Fassbinder im Rex
Weil Hanna Schygulla schon in Bern ist, gestaltet das Kino Rex ein kleines Programm mit Fassbinder-Filmen: «Fontane Effi Briest», «Lili Marleen» und natürlich «Die Ehe der Maria Braun». Es gibt zudem italienische Filme, ausgewählt und eingeführt vom Kenner Thomas Pfister: «Il vangelo secondo Matteo» (Pier Paolo Pasolini, 1964), passend zu «Tod Trauer Trapani»; ausserdem «Bellissima» (Luchino Visconti, 1951) sowie «Pane e cioccolata» (Franco Brusati, 1974).
Von PASSIONe zu Italianità
Schlussendlich steigt mit Musik, Literatur und Essen eine Festa Italiana. Ob Zufall, ob bewusste Linie – mit dem vieles umfassenden Stichwort «Italianità» haben die Festwochen nach «PASSIONe» ihr finales Motto gefunden.
Ein Stichwort, das uns zu Freude über alles veranlasst, das die Fremdarbeiter, die Gastarbeiter, die Saisonniers uns hier gebracht haben beim Krampfen in Fabriken, in Schneidereien, als Dienstmädchen und natürlich beim Errichten der technisch-baulichen Infrastruktur sowie beim Erringen des Wohlstands in unserem Land, der ohne sie und ihre Leidensbereitschaft nicht möglich gewesen wäre. Und leise, ohne Plan, haben wir uns dank der Ferienreisen, dem Kino, der Mode, der Musik (von «Marina» über «Azzurro» zu Gianna Nannini) und dem Essen auch die andere Infrastruktur Italiens angewöhnt, ja angeeignet: die Kultur. Dies so sehr, dass wir uns kaum noch bewusst sind, wie karg das Leben in der Schweiz zuvor gewesen ist. Danke.
Programm unter: www.schlossholligen.ch / www.rexbern.ch