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«The Theatre is the Church of Art»

Mitten im fulminanten Schlussspurt der laufenden Saison stellt Bühnen Bern das Programm seiner Spielzeit 2025/2026 vor: ein Feuerwerk an Fragen, Farben, an Diversität, an Diversem. Schwer zu glauben, dass dies alles trotz einer Kürzung der Subventionen um fast eine halbe Million Franken und insgesamt einer Einsparung von anderthalb Millionen möglich ist. Trotzig lächelnd erklärt Intendant Florian Scholz: Wir wollen gute Partner der Behörden sein und den Leuten etwas bieten, das Hand und Fuss hat. Und das hat es.

| Christoph Reichenau | Kultur
Foto aus dem Stück #Lookoftheday
Im Stück #Lookoftheday geht es um Fast Fashion. Foto: Annette Boutellier

Auf dem langen Tisch im Foyer des Stadttheaters, um den sich Theater- und Medienleute gesetzt haben, steht sie bildlich: Eine grosse bunte Schachtel mit einer breiten Schlaufe. Sie wird an der Medienkonferenz geöffnet. Schicht um Schicht kommt der Inhalt der Schachtel ans Licht, eine enorme Fülle an Werken – Uraufführungen, Wiederaufnahmen, Koproduktionen, einige speziell für Bern kreiert. Doch bevor wir uns die Bescherung anschauen, erhält Alevtina Ioffe das Wort, die neue Chefdirigentin der Oper. Sie kommt aus Berlin und folgt auf Nicholas Carter, der in der Theaterhierarchie als Musikdirektor nach Stuttgart aufsteigt.

 

Alevtina Ioffe

Auf Englisch plaudert Alevtina Ioffe, die das Neujahrskonzert 2024 dirigiert hat und das Konzert im August auf dem Bundesplatz leiten wird, über ihre Anfänge in Russland und den langen Weg zum neuen Lebensmittelpunkt in Bern. Sie soll sich zuerst in das Berner Symphonieorchester (BSO) und dessen Klang verliebt haben. Das Gebäude des Stadttheaters empfindet sie in seiner traditionellen Anmutung als wunderbar. Und die ruhige Stadt mit der Aare hat es ihr angetan.

Alevtina IoffeAlevtina Ioffe. Bild: Victor Goriachev

Für Ioffe ist das Theater «The Church of the Arts». Die Dirigentin hat 2022 herausragende Positionen in Russland verlassen, um ihren Weg von Berlin aus in der musikalischen Welt fortzusetzen und nun also in Bern anzukommen. Auch wenn es keine explizite Erklärung von Ioffe gibt, darf man ihren Weggang aus Moskau just zum Zeitpunkt des russischen Überfalls auf die Ukraine als Distanzierung verstehen.

Ioffe begründet selbst auch die Wahl der drei Werke, deren musikalische Leitung sie übernimmt: Puccinis «Manon Lescaut» (mit Regisseurin Anna Bergmann), Verdis «La forza del destino» (Regie führt Julia Lwowski) und als Familienoper Humperdincks «Hänsel und Gretel» (inszeniert von Raimund Orfeo Voigt) – alles Werke, in denen Menschen und vor allem Frauen und Kinder ihren Weg aus beklemmender Enge zur Freiheit erkämpfen.

 

Sparen dank «Stagione»-Betrieb

Und nun folgen Schlag auf Schlag die kleinen und grossen Glanzlichter des Programms 2025/2026, dem man kaum nicht anmerkt, dass es einer strukturellen Unterfinanzierung und zusätzlich einer direkten Subventionskürzung abgetrotzt ist. Fast anderthalb Millionen Franken weniger stehen zur Verfügung. An 20 Abenden wird das Stadttheater dunkel bleiben, je eine Oper und ein Schauspiel weniger kommen auf die Bühne. Die einzelnen Produktionen werden im Stadttheater in einem kürzeren Zeitraum aufgeführt werden, das heisst dichter und zudem blockweise über die Spielzeit verteilt. In den Vidmar-Hallen ändert sich nichts.

Diese Produktionsweise, in der Westschweiz üblich, nennt sich «Ensuite» oder «Stagione». Sie wird in Bern indes mit gebremstem Schaum angewandt. Heisst: Ein Stück wird nicht «ausgespielt» bevor das nächste beginnt. Für das Publikum spürbar ist im Grunde nur, dass die Aufführungstermine nach der Première schneller als bisher terminiert sind. Will man ein Werk erleben, sollte man am besten mit der Reservation nicht zu lange warten. Abonnentinnen und Abonnenten sollen gar nichts merken.

Im Innern von Bühnen Bern können so zehn Stellen in der Technik eingespart werden, da es weniger Auf- und Abbauten auf der Bühne gibt. Auch wenn Bühnen Bern ein Betrieb mit rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist, fällt dies ins Gewicht. Zum Glück reduzieren genügend Technikerinnen und Techniker ihr Pensum, verlassen aus freiem Entschluss das Haus oder gehen in Rente.

 

Das Programm 2025/2026: Antreten gegen die Vereinfachung

Die Leiterinnen und Leiter der vier Sparten Schauspiel, Oper, Tanz und symphonische Musik sowie die Dramaturginnen und Dramaturgen berichten mit Feuer und Stolz, was wann von wem im Stadttheater, im Casino und in den Vidmarhallen erlebt werden kann. Man hört mit Gwunder und Interesse zu, notiert sich dies und das, wird von Höhepunkt zu Höhepunkt geleitet. Und nun?

Nur in einem epischen Artikel liesse sich das Gesagte wiedergeben, das teilweise allerdings erst in einem Jahr auf die Bühne kommen wird. Der Schreibende wählt einen anderen Weg: er verweist zuerst auf die von Bühnen Bern selbst aufbereiteten Informationen, die differenziert verfügbar sind. Er schält wenige grosse Linien heraus und wagt schliesslich eine knappe rein subjektive Wahl.

Ab sofort auf Papier und via www.buehnenbern.ch bereit stehen 2 Programmhefte, eines für das Berner Symphonieorchester und ein gemeinsames für die Sparten Oper, Schauspiel und Ballett. Den Anfang des Drei-Sparten-Hefts bildet ein Gespräch von Intendant Florian Scholz mit den Leiterinnen und Leitern der Sparten und deren Dramaturginnen und Dramaturgen unter dem Titel «Antreten gegen die Vereinfachung». Daraus einige Sätze: «Wie begegnen wir unserer Welt in einer Zeit, in der unsere Demokratie angegriffen wird?» (Roger Vontobel, Schauspieldirektor) – «Was ist stärker: das Individuum oder das Schicksal?» (Rainer Karlitschek, Operndirektor) – «Tanz wird zu einem emanzipativen Akt.» (Isabelle Bischof, Ballettdirektorin) – «Das ist schon etwas Besonderes am Theater: man geht hin und lässt sich eine, zwei, drei Stunden auf eine Sache ein, setzt sich gemeinsam mit einer anderen Welt in Beziehung.» (Felicitas Zürcher, Chefdramaturgin Schauspiel).

Bald wird es weitere Programmhefte für verschiedene Publika und Themen geben, etwa für junges Publikum & Vermittlung, für die französischsprachige Nouvelle scène und die Kammermusik.

 

Einige Linien des Programms

Inhaltlich reicht das Programm von der Antike über die klassische Moderne in die Gegenwart und Zukunft. Es geht um Emanzipation, Freiheit, Menschlichkeit, Demokratie. Theater ist Empathie. Die klassische Erklärung dafür hat Lessing gegeben. (Das Drama soll die Zuschauenden zum Mit-Leiden [heute: zur Empathie] bewegen und so zu besseren Menschen machen. Theater ist nicht nur Freude, Zerstreuung, Vergnügen, sondern auch Bewegung im doppelten Sinn, Anrührung, Bildung. Bühnen Bern hat beides in grosser Vielfalt geplant.)

In seiner um 1770 entstandenen «Hamburgischen Dramaturgie» erklärt Lessing es sei der Sinn des Theaters, die Fähigkeit des Menschen «im Mitleiden» auszubilden. «Mitleid» – damit ist nicht das gemeint, was wir heute darunter verstehen. Unter «Mitleid» versteht Lessing eine umfassendere Emotion: «Anteilnahme» oder «Sympathie» oder «Empathie». Es geht um die Fähigkeit, sich auf emotionale Weise in eine andere Person hineinzuversetzen und deren Schicksal so zu erleben und so empfinden zu können, als wäre es das eigene. Das Theater ist für Lessing also ein Ort, der uns zeigt, dass es Umstände geben kann, die auch uns in Situationen zu bringen vermögen, in denen wir uns nie zu finden hofften. Theater ist ein Ort, wo die Fähigkeit der Anteilnahme exemplarisch trainiert werden kann. Es ist ein Ort gesellschaftlichen Lernens. Indem wir nämlich Anteilnahme üben, entfernen wir uns ebenso von moralischer Ignoranz wie von moralischem Übereifer.

Eine mittelgrosse Institution darstellender Künste wie Bühnen Bern ist ein Basislager, ab und zu ein 8000er-Gipfel. Hier starten künstlerische Karrieren (frühere Beispiele: Tanzchef Martin Schläpfer, Opernchef Aviel Cahn, Tanzchefin Cathy Marston, Operndirigent Nicholas Carter), hierhin kommen Menschen zurück (Beispiele: BSO-Chefdirigent Mario Venzago, Schauspieldramaturgin Felicitas Zürcher), hier kommen und gehen Sängerinnen und Sänger, Schauspielerinnen und Schauspieler, Regisseurinnen und Regisseure, Choreografinnen und Choreografen. Dank Writers und Composers in residence entstehen in Bern neue Werke, im unmittelbaren Austausch mit dem Betrieb aber auch kleine Sache, die zum Teil ungeplant das Programm bereichern.

Wichtig ist die nationale und internationale Vernetzung, sind Beziehungen, die zu Ko-Produktionen (aktuell mit Tanz Bielefeld, bald «Twi/light» mit St. Gallen im Rahmen des Festivals Steps) oder zu Übernahmen führen (letzthin der «Zauberflöte» aus Klagenfurt oder «Medea» aus Freiburg i. Br.) und ab und zu Auftritte an Festivals im Ausland (Bern Ballett in Biarritz oder das Schauspiel in Recklinghausen) oder ganze Tourneen ermöglichen. Bern ist ein mittlerer Knoten in einem europäischen Netz mit grösseren und kleineren Knoten, mit einer Art von Rankings und Hierarchien. Auf diese Art wirken Bühnen Bern aus der Hauptstadt hinaus und holen Welt zu uns. Dessen sind wir uns zum Beispiel beim jährlichen Theater-Festival «auawirleben» für die Freie Szene bewusst, beim institutionellen Bühnengeschehen weniger.

 

Meine Vor-Freude

Fast jeden Abend könnte man im Casino, im Stadttheater und dessen Mansarde, in den Vidmar-Hallen und – zu Beginn der neuen Saison – auf dem Bundesplatz Tolles erleben. Wenn die Zeit knapp ist und auch Lesungen, das Kino, Museen, andere Kulturorte und gelegentlich das Fernsehen locken, welche Aufführungen möchte ich nicht verpassen?

Zuerst die Oper «Manon Lescaut» von Giacomo Puccini aus dem Jahr 1893 in der Regie von Anna Bergmann. Weil sie den Kampf der Frau um Emanzipation und Freiheit darstellt, der auch heute trotz aller Fortschritte nötig ist.

Dann «L’Agamennone», Uraufführung einer im Auftrag von Bühnen Bern geschaffenen Oper des italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino. Es geht um die Ankunft Agamemnons, der die Griechen gegen Troja angeführt hat, in seiner Burg Mykene. Die Gattin Klytämnestra empfängt ihn und rächt sich an ihm, weil Agamemnon zehn Jahre zuvor die gemeinsame Tochter Iphigenie geopfert hat, um die Götter um günstigen Wind für die Fahrt nach Troja zu bitten.

Im Tanz sticht mir «Carmen» von Jiri Pokorny in die Augen, eine eigenwillige Interpretation der Frau und der Geschichte, die vom BSO gespielte Musik von Schtschedrin nach Bizets Opernmusik wird erweitert um einen zeitgenössischen Auftrag an den Komponisten Jaconello.

Schliesslich freue ich mich auf «Die Orestie» von Aischylos, inszeniert von der deutsch-dänischen Regisseurin Anja Behrens, wieder ein antiker Stoff über die Abgründe des Menschseins.

Und falls noch ein Wunsch frei wäre: Das Jugendstück «Zwei Blumen im Winter» von Delphine Pessin erzählt, wie sich eine junge Frau im Praktikum des Altersheims und eine alte Bewohnerin begegnen.

Dies eine persönliche Auswahl. Jede und jeder wählt anders. Es gibt viel zu erleben, musikalisch, tänzerisch, szenisch. Mit Alevtina Ioffe: «The Theatre is the Church of Art».

 

Und nicht vergessen

Die Spielzeit 2024/2025 dauert noch einen Monat. Das Stück «Lookoftheday» über Billigkleider, Mode, Wegwerf-Klamotten, prekäre Arbeitsbedingungen in den Ländern des Südens und textile Abfallberge hier bei uns läuft weiter. Und «Wachtmeister Studer» in der Villa Morillon, eine Neuinszenierung von Friedrich Glausers Roman im Rahmen von Schauspiel mobil, hat noch gar nicht begonnen.


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