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Die Hartnäckigkeit der Zschokkes
Als Regierungskommissär wurde Heinrich Zschokke zur Zeit Napoleons an die helvetischen Brandherde geschickt und trat zeit seines Lebens für die Werte der Aufklärung ein. Ein Kinofilm der in Bern geborenen Brüder Matthias und Adrian Zschokke widmet sich dem Leben des unermüdlichen Politikers und Schriftstellers.
 
In «Zschokke» erzählen Matthias und Adrian Zschokke die Geschichte ihres Urururgrossvaters aus Magdeburg, der mit 24 Jahren in die Schweiz auswanderte und sich fortan für einen modernen Nationalstaat einsetzte.
Unter dem französischen Protektorat wurde 1798 die «unteilbare helvetische Republik» mit einem Direktorium als oberste Regierung gegründet, für deren freiheitliche Verfassung Heinrich Zschokke eintrat. Auf Schweizer Boden wurden von da an Stellvertreterkriege zwischen Frankreich und der österreichisch-russischen Koalition ausgefochten, wie Matthias Zschokke in seinem Essay «Der Willensschweizer» ausführt.
Der junge Theologe und Philosoph wurde Leiter des Philanthropins in Reichenau (GR), welches nach den Grundsätzen Menschenliebe, Vernunft, Gleichheit, Natürlichkeit und Glück geführt wurde. Zschokke unterstützte die «Patrioten», die einen Anschluss Graubündens an den neuen Staat forderten. Nach drei Jahren musste er, im Konflikt mit den Bündner Liberalen, nach Aarau fliehen. Vom Direktorium wurde Zschokke als Regierungskommissär an verschiedene Brandherde geschickt, um zwischen den Kriegsparteien und der leidenden Schweizer Bevölkerung zu vermitteln. Der umtriebige Zschokke hatte nicht nur verschiedene politische Ämter inne, er war auch Herausgeber der aufklärerischen Zeitung «Der Schweizerbote».
Dank seiner eisernen Disziplin, seiner Kühnheit und grossen Schaffenskraft mauserte er sich zum meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit, der in unzählige Sprachen übersetzt wurde und sich auch über den europäischen Kontinent hinaus grosser Beliebtheit erfreute. Mit seiner Frau Anna Elisabeth, geborene Nüsperli, hatte er zwölf Söhne und eine Tochter.
Der Regisseur als Erzähler
Was verbindet den Regisseur und Drehbuchautor von «Zschokke», Matthias Zschokke, mit seinem Ahnen? «Heinrich Zschokke lebte in einer revolutionären Zeit. Es ist eine Wohltat, zu entdecken, mit welcher Lust und Energie die Leute damals formulierten, wie sie sich herausnahmen, selber zu denken, wie offen und angstfrei sie dem ‹System› die Stirn boten. Das ist ansteckend.» Auch sind dem Autor von 15 Prosawerken, 8 Theaterstücken und mittlerweile 4 Filmen auch die Hartnäckigkeit und der Durchhaltewille nicht fremd. Über Sitzleder verfügt auch Bruder Adrian Zschokke (Kamera und Produktion). Er war in über 20 Filmproduktionen für die Kameraführung verantwortlich, führt Regie, schreibt Drehbücher und Krimis und führt die Produktionsfirma r-Films. «Wir vertrauen einander», verrät Adrian über die Zusammenarbeit mit dem Bruder, «auch wenn wir beide am Anfang vielleicht etwas anderes meinen.» Während Adrian als Krimiautor die Kriegsschauplätze im Visier hatte, stürzte sich Bruder Matthias auf Heinrich Zschokkes literarische Erzeugnisse.
Matthias Zschokke plante ursprünglich einen pompösen Kostümfilm, doch es haperte mit der Finanzierung. Schliesslich mussten die Brüder mit 40 Prozent des geplanten Budgets auskommen, und der ausgebildete Schauspieler Matthias Zschokke sprang als leidenschaftlicher Erzähler in die Bresche, was schliesslich zur Basis des Films wurde.
Ganz auf die Zschokke’sche Interpretation eines Kostümfilms verzichten muss der Zuschauer jedoch nicht: Hanspeter Müller-Drossaart schlüpft in die Rolle des alten Zschokke, der anlässlich einer Feier über sein Leben reflektiert. Rasmus Friedrich überzeugt als junger, ungestümer Aufklärer. Bettina Stucky fungiert neben Matthias Zschokke in der Rolle der Nanny Nüsperli als Erzählerin. Auch Ingrid Kaiser, Star der Matthias-Zschokke-Filme, legt als Königin Karoline einen umwerfenden Auftritt hin – «Ich lese sie schon lange, leider ist es erst jetzt eine Sünde.» Collagenartig fügt Matthias Zschokke Zeitdokumente, Originalquellen, gespielte und erzählte Sequenzen und dokumentarische Aufnahmen organisch zusammen. Komische und verfremdete Elemente begleiten das Spiel der Schauspieler und stellen unser historisches Verständnis in Frage. Matthias und Adrian Zschokke gelingt mit «Zschokke» eine einfühlsame Dokufiktion, die dazu einlädt, die Vergangenheit neu zu entdecken; die unkonventionelle Dramaturgie und die pointierte Bildsprache öffnen den Raum für das Staunen über diesen Freigeist Heinrich Zschokke, der über eine scheinbar unerschöpfliche Produktivität verfügte.
«Zschokke» ist eine Koproduktion von r-film und SRF.
Kino Rex, 12. Dezember, 18.00 Uhr. Anschliessend Diskussion mit Matthias und Adrian Zschokke. Moderation: Lucas Gisi, Schweizerisches Literaturarchiv.
«Der graue Peter»
… von Matthias Zschokke war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Darin beschreibt Zschokke eine Begegnung eines erwachsenen Mannes mit einem Kind, das ihm während einer Zugfahrt anvertraut wird. Der Roman torpediert mit seiner Komik die Erwartungshaltung des Lesers, der auf jegliche Art der Grenzüberschreitung sensibilisiert ist.
Rotpunktverlag, Zürich, 2023. ISBN 978 3 85869 977 0
Mit geschärften Sinnen träumen
Filme von Matthias und Adrian Zschokke: «Edvige Scimitt» wurde 1986 mit dem Kritikerpreis der Berlinale ausgezeichnet, 1988 folgte «Der Wilde Mann» und 1996 «Erhöhte Waldbrandgefahr». Die Filme sind Meisterwerke des surrealen Kinos, zeitlos, moralinfrei und sie berühren in der Tiefe.
«Ich bin der Samichlous, nicht Santa Claus»
«Bern wird von linken Spiesser:innen regiert»
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